Gefangen im Algorithmus
Lustige Tiervideos, spannende Challenges, einprägsame Melodien – das Videoportal Tiktok begeistert weltweit rund 1,6 Milliarden Nutzer. Auch in Deutschland zieht die Social-Media-Plattform monatlich mehr als 20 Millionen aktive Nutzer in ihren Bann.
Doch Tiktok steht auch in der Kritik. Die EU bemängelt mangelhaften Jugendschutz. Psychologen sprechen von einem erhöhten Suchtpotenzial. Zudem verbreiten sich auf der App immer wieder lebensgefährliche Challenges und Mutproben, die bereits bei einigen Jugendlichen zum Tod führten. Erst im April dieses Jahres ist ein 13-jähriges Mädchen im Raum Kassel bei einer „Blackout-Challenge“ auf Tiktok gestorben. Sie habe sich, wie die „Hessisch-Niedersächsische Allgemeine“ berichtete, in ihrem Zimmer bis zur Bewusstlosigkeit selbst stranguliert und dabei mit dem Handy gefilmt.
Während der Corona-Pandemie tauchten viele Jungen und Mädchen noch stärker in die digitale Welt von Instagram, Tiktok und Co. ein. Knapp ein Viertel der 10- bis 17-Jährigen nutzt Social-Media-Dienste in riskanter Weise. Das geht aus einer Studie der gesetzlichen Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hervor. Vor der Pandemie, 2019, waren es lediglich rund acht Prozent. Etwa sechs Prozent der Jugendlichen weisen sogar ein krankhaftes Nutzungsverhalten auf. Durchschnittlich werden die Sozialen Medien werktags 150 Minuten lang genutzt und an Wochenende ganze 224 Minuten.
Dabei empfinden Jugendliche die Inhalte, die sie auf dort vorfinden, bei weitem nicht nur als positiv. Einer Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW zufolge fühlen sich mehr als 60 Prozent aller minderjährigen Tiktok-Nutzenden in Deutschland häufig unwohl mit den Inhalten, die ihnen auf der Plattform angezeigt werden. Dennoch erfreut sich die App weiterhin großer Beliebtheit.
Der Psychologe und Wissenschaftler Christian Montag sieht verschiedene Gründe für diese Diskrepanz. „Social-Media-Applikationen entfalten zweifelsohne einen starken Sog für sehr junge Nutzende“, erklärt Montag. Zudem würden Soziale Medien heutzutage einen zentralen Bestandteil der Jugendkultur darstellen und junge Menschen bei der Identitätsfindung begleiten. „Dieser Trend wird meines Erachtens anhalten“, sagt der Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm. „Richtig ist aber auch, dass das Social-Media-Zeitalter sehr schnelllebig ist. Es ist sehr schwer, langfristige Trends vorherzusagen.“
Warum Tiktok ein höheres Suchtpotenzial als andere Social-Media-Plattformen aufweise, sei laut Montag aktuell aufgrund fehlenden Zugangs zu entsprechenden Daten schwer empirisch zu erforschen. „Von außen betrachtet scheint klar zu sein, dass die Darstellung der Inhalte im Hochformat auf Tiktok für das Smartphone-Zeitalter perfektioniert zu sein scheint“, erklärt der Psychologe. „Weiterhin lösen die sehr kurzen Videos alle paar Sekunden immer wieder Reaktionen in unserem Gehirn hervor, die die Nutzenden bei der Stange halten.“ Der Algorithmus, der Inhalte für die Nutzenden heraussucht, funktioniere dabei besonders erfolgreich.
Momentan ist die Tiktok-Sucht nicht offiziell von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannt. „Es ist jedoch Bestandteil aktueller Debatten, ob eine Tiktok-Übernutzung, beziehungsweise von Social Media generell, einer eigenen Suchtkategorie bedarf“, sagt Montag. „In dem Fall würde man beispielsweise Kontrollverlust über die Tiktok-Nutzung beobachten müssen, und Tiktok würde der zentrale Inhalt der Lebenswelt einer Person sein – und alles andere in den Hintergrund geraten.“
Montag sieht in der übermäßigen Nutzung von Tiktok generell eine Gefahr für junge Menschen. Die Folgen eines exzessiven Social-Media-Konsums könnten in manchen Fällen schwerwiegend ausfallen. „Als besonders zentral gelten in der Diskussion um den Suchtbegriff funktionelle Beeinträchtigungen“, erklärt er. „Mit anderen Worten stellt sich bei der Debatte die Frage, ob die Tiktok-Nutzung so exzessiv ist, dass es beispielsweise zu großen Problemen im Beruf oder in zwischenmenschlichen Beziehungen kommt.“ Zudem gingen exzessive Nutzungsmuster häufig mit verstärkt negativer Gefühlslage und Produktivitätseinbußen einher.
Der Experte hält verschiedene Maßnahmen für geeignet, um die Gefahren der App einzudämmen. Wichtig wäre es aus seiner Sicht, funktionierende Alterschecks beim Anmelden einzuführen. „Weiterhin brauchen wir Regulierung, so dass die Plattformen bezüglich der gezeigten Inhalte und auch im Hinblick auf das Plattform-Design mehr in die Verantwortung genommen werden.“ Der Digital Services Act der EU helfe hierbei.