Der Politologe Thomas Biebricher hält den Fall Brosius-Gersdorf für die Folge eines Mangels an Führung in CDU und CSU und einer Hypothek, mit der die Union in die Regierung gestartet ist. Biebricher forscht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Konservatismus und warnt vor den Folgen, falls sich solche Vorgänge bei der Richterwahl wiederholen.
epd: Herr Biebricher, die Union hat Frauke Brosius-Gersdorf gewählt – und zwar im Jahr 2015 mit den Stimmen der sächsischen CDU als stellvertretende Richterin in den Landesverfassungsgerichtshof. Können Sie erklären, was sich in der Union in der Zwischenzeit getan hat, dass die Juristin in Teilen der Partei als nicht mehr wählbar gilt?
Thomas Biebricher: Frau Brosius-Gersdorf hat im Februar 2025 als Sachverständige im Bundestag eine Empfehlung zur Reform des Abtreibungs-Strafrechtsparagrafen 218 abgegeben. Dass sie sich damals für eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im ersten Trimester außerhalb des Strafrechts ausgesprochen hat, spielt sicher eine Rolle. Mit ihrer Abwägung zur Menschenwürde vor der Geburt haben manche in der Unionsfraktion sicher Schwierigkeiten. In der Sache ist das ja völlig legitim, denn das sind Dinge, die in den C-Parteien eine große Rolle spielen.
epd: Zu den Positionen Brosius-Gersdorfs gab es viele Falschinformationen. Von einigen Medien wurden diese offenkundigen Lügen stark verbreitet, und das entfaltete auch Wirkung in der Unionsfraktion. Stand diese Kampagne am Anfang oder die Bedenken in der Fraktion?
Biebricher: Was zuerst kam, kann man kaum noch entwirren. Da hat sicher vieles zusammengespielt. Man muss aber festhalten, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt ein sehr großes Thema war für rechte Portale und für die AfD. Und es gibt Leute in der CDU/CSU-Fraktion, die anfällig dafür sind, sich davon treiben zu lassen.
epd: Warum ist das so? Warum kann eine weitgehend faktenfreie Kampange so eine Wirkung entfalten in der Unionsfraktion, aber auch an der Basis?
Biebricher: Was die Fraktion angeht, muss man davon ausgehen, dass viele der Fraktionsmitglieder sich nicht länger mit der Personalie Brosius-Gersdof beschäftigt haben. Das ist ja auch nicht anstößig, denn die haben ja auch noch anderes zu tun. Zur Basis kann ich keine fundierte Einschätzung abgeben. Ich weiß nicht, über welche Kanäle man sich dort informiert hat, ob da diese erwähnten rechten Medien eine Rolle gespielt haben.
Das Problem ist der Kontext. Hier muss man sehen, dass die Union mit einer schweren Hypothek in die Regierung gestartet ist: die Kehrtwende beim Schuldenmachen zum Beispiel. Das hatte sie im Wahlkampf anders angekündigt. Und da denke ich, dass an der Basis, aber auch in der Fraktion viele erschrocken sind und sich nun fragen, ob das noch die alte Union ist.
epd: Aber war das nicht immer so, dass die Union nach außen die Tradition betont und in Sachfragen enorm pragmatisch gehandelt hat? Warum ist das nun ein Problem?
Biebricher: Es stimmt, der Pragmatismus gehört zur Union. Und in der Regierung ist er immer stärker ausgeprägt als in der Opposition. Das ist ja auch nicht unbedingt verwerflich, denn es belegt in manchen Fällen einfach, dass man bereit ist, sich inhaltlich mit veränderten Rahmenbedingungen ins Benehmen zu setzen und darauf zu reagieren. Aber in den vergangenen Monaten war die Diskrepanz zwischen dem Eindruck, den man in der Opposition erweckt hat und dem, was man noch vor dem Regierungsantritt gemacht hat, so stark, dass die Union unter Druck steht.
Und man muss schon auch sagen: Bereits in der Vergangenheit hat sich die Union bei bioethischen Fragen wie Abtreibung das Leben nicht leicht gemacht und hat ernsthafte Debatten geführt. Ich halte es aber für problematisch, das im aktuellen Fall zu einer Gewissensfrage gemacht zu haben. Der Richterwahlausschuss hatte sich ja bereits festgelegt. Es ging darum, Richterinnen und Richter in ein Gremium zu wählen, dem keine einzelne Person ihren Stempel aufdrücken kann. Den Eindruck, der erweckt wurde, Frau Brosius-Gersdorf sei aufgestellt worden, damit irgendwann mal Abtreibung legal wird, finde ich abenteuerlich.
epd: Zumal sie in den zweiten Senat des Verfassungsgerichts gewählt werden sollte, der für Fragen des Schwangerschaftsabbruchs gar nicht zuständig ist. Aber warum hatte das dann dennoch solche Auswirkungen auf Basis und Fraktion? Ist das allein auf eine Symbolpolitik zurückzuführen, auf das Signal „Wir sind noch wir“?
Biebricher: Zwei Faktoren sind hier zu benennen: Es gibt Politikbereiche, in denen man aus der Sache heraus keine schnellen Ergebnisse vorweisen kann. Man kann nun mal nicht die Infrastruktur über Nacht sanieren. Man sieht nicht innerhalb dreier Monate die Früchte der Sondervermögen. Das bedeutet zwangsläufig, dass Leute in den Parteien sich fragen, wie ihr Profil erkennbar wird. Und die dann sagen, dass sie keine Regenbogenflaggen am Bundestag hissen oder eine starke Position beim Lebensschutz einnehmen. Da hat man sofort Erkennbarkeit und Aufmerksamkeit.
Der andere Punkt: In der Fraktion mangelte es an Führung – vom Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn, aber auch von Bundeskanzler Friedrich Merz. Da hätte es ein paar Argumente gebraucht, die man der Fraktion an die Hand gibt.
epd: Ist so eine Symbolpolitik denn langfristig so geschickt? In der Forschung gibt es doch mittlerweile reichlich Erkenntnisse darüber, dass es für konservative Parteien nicht gut ausgeht, wenn sie rechte Narrative übernehmen.
Biebricher: Für sozialwissenschaftliche Verhältnisse ist das auch eine sehr eindeutige Forschungslage. In dem Moment, in dem konservative Parteien Positionen von rechtsaußen übernehmen, werden sie normalisiert, und mittelfristig nutzt das immer den Rechtsaußen-Parteien. Die Idee, sich bestimmte Themen und Wähler von den rechten Parteien zurückzuholen, funktioniert nicht. In der Mitte verlieren Konservative dann mehr, als es am rechten Rand zu gewinnen gibt, und zudem können Rechtsaußen-Parteien immer sagen: „Das ist nicht genug.“
epd: Nimmt man denn in der Union diese Erkenntnisse der Wissenschaft gar nicht zur Kenntnis?
Biebricher: Die Union ist lange davon ausgegangen, dass es sich für sie auszahlt, solche Narrative zu bedienen, von denen sie dachte, dass sie bei ihnen die Lufthoheit über den Stammtischen hat. Das Problem ist, dass es heute eben nicht mehr bei der Union einzahlt, sondern bei der AfD. Ich glaube, man hat sich dort noch nicht klargemacht, dass sich die Gemengelage verändert hat.
epd: Was wären die Folgen für Gesellschaft und Demokratie, wenn der Konservatismus nach rechtsaußen kippt?
Biebricher: Die konservativen Parteien haben eine Gatekeeper-Funktion nach rechtsaußen. Sie können durchaus auch rechtskonservative Dinge vertreten, solange sie klar sagen, dass gewisse Positionen nicht legitimer Teil des Diskurses sind. Es macht einen großen Unterschied, ob man so eine Partei hat oder nicht. Das zeigt der Blick in andere europäische Länder, zum Beispiel Italien, wo heute eine postfaschistische Partei die Regierung führt. Außerdem sind konservative Parteien gut aufgestellt, um rapide Veränderungen glaubwürdig zu moderieren. Ihnen nimmt man ab, dass sie nicht Veränderungen um der Veränderung willen herbeiführen. Hat man keine nennenswerte konservative Kraft, wird es schwierig, solche manchmal notwendigen Veränderungen moderiert zu kriegen.
epd: Sehen Sie auch eine konkrete Gefahr durch die aktuellen Vorgänge um die Richterwahl?
Biebricher: Die ernstzunehmende Gefahr ist, dass es zu einer Politisierung des Bundesverfassungsgerichts kommt. Da kann man in die USA schauen, aber auch nach Ungarn und nach Polen, um zu sehen, welche Gefahr das ist. Eine schleichende Autokratisierung führt oft über die Judikative. Man muss aber aufpassen, es mit dem Alarmschlagen nicht zu übertreiben. Es hängt davon ab, ob jetzt jede Richterwahl diesem Muster folgt. Wenn, wäre das dramatisch und eine Zäsur. Ich hoffe sehr, dass man in den Parteien die richtigen Schlussfolgerungen zieht, damit sich das nicht wiederholt.