Gedenken braucht echte Menschen

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der NS-Zeit werden weniger. Können sie mit digitalen Mitteln würdig vertreten werden? Ein Kommentar zum Umbruch unserer Holocaust-Erinnerungskultur.

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin erinnert an rund sechs Millionen Juden, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ermordet wurden.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin erinnert an rund sechs Millionen Juden, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ermordet wurden.Reinhard Wiesinger

Die Erinnerung an die so­genannte Machtergreifung der Nazis am 30. Januar 1933 – die ja kein Schicksalsereignis war, sondern durch demokratische Wahlen zustande kam – eröffnet ein dichtes Gedenkjahr: Vor 90 Jahren geschahen die Auflösung des Reichstages, der Reichstagsbrand, der Tag von Potsdam, das sogenannte Ermächtigungsgesetz, die erste antisemitische Gesetzgebung, die Bücherverbrennung und vieles mehr. Es erstaunt mich immer ­wieder, wie in wenigen Wochen aus einer Republik eine Diktatur werden konnte. Schlag auf Schlag etablierten die Nazis ihre Macht und be­seitigten Andersdenkende.

Warum gedenken wir heute dieser Ereignisse? Um die Opfer nicht zu vergessen und für unsere Zeit Orientierung zu finden, damit solches nicht wieder geschieht. Um Mut zu machen zu widerständigem Handeln. Das jedenfalls ist der ­Anspruch kirchlicher Erinnerungskultur, die ja mehr ist als histo­risches Lernen. Sie befindet sich im Umbruch, vor allem weil es kaum noch Zeitzeug:innen gibt, die persönlich ihre Geschichte erzählen und damit Empathie wecken könnten. Das ist unersetzbar: Das Gedenken wird ohne sie abstrakter und distanzierter, während wir auf der kognitiven Ebene – die natürlich ebenso wichtig ist – das Entstehen des Nationalsozialismus, seine Strukturen und Auswirkungen auch mithilfe von Publikationen von Fachleuten analysieren können.

Digital kann persönlich nicht ersetzen

In der Bildungsarbeit der Gedenkstätten wird darüber diskutiert, virtuelle, nach lebenden ­Personen künstlich erschaffene Zeitzeugen einzusetzen, die man via Bildschirm befragen kann. Ich habe das ausprobiert bei der Werkstatt „SPUR.lab“ über digitale Wege in der Erinnerungskultur. Sie wurde von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Kooperation mit der Filmuniversität Babelsberg veranstaltet. Die Werkstatt ging der Frage nach, ob man Geschichte in virtuellen Welten zeigen kann.

Es wurden Projekte vorgestellt, die unter Nutzung neuester Technik das Lernen über den Nationalsozialismus in digitalen Formen ­ermöglichen. Ich konnte mit einer 3-D-Brille im Krieg ausgelöschte Orte oder Internierungslager begehen oder historische Personen in ihrer damaligen Umgebung besuchen, in ihre Wohnung treten und mit ihnen reden. In der virtuellen Wirklichkeit antworten mir schon verstorbene Zeitzeugen. Noch zu Lebzeiten haben sie der künstlich erschaffenen Umgebung ihre Erlebnisse und Erfahrungen hinzugefügt.

Das ist zwar technisch faszinierend, kann aber die persönliche ­Begegnung nicht ersetzen. Die Opfer waren wirkliche Menschen und auf der anderen Seite haben Menschen das Unrecht zugelassen oder mitgemacht. Menschen, die selbst nicht mehr dachten und handelten, sondern ihre Verantwortung an ­eine „Vernichtungsmaschinerie“ abgaben, wie es die ­jüdische Publizistin Hanna Arendt (1906–1975) ausdrückte. ­Darum werde ich auch in Zukunft nicht meinen Avatar, die digitale Repräsentanz meiner ­Person, zur Gedenkveranstaltung schicken und meinen Artikel nicht durch künstliche Intelligenz ver­fassen lassen. Denn Gedenken braucht echte Menschen. Weil es um Menschlichkeit geht – über Vergangenheit und Zukunft hinweg.

Für die tiefere Gemeinschaft

Deshalb halte ich eine ganze Menge von den etablierten Gedenkfeiern, die in Verruf gekommen sind, weil sie immer ähnlich ablaufen und angeblich keinen mehr bewegen. Als Pfarrerin weiß ich: Gerade das Ritual hat seinen tiefen Sinn im Gedenken. Immerhin begegnen sich hier echte Menschen zu einer gemeinsamen Feier. Noch tiefere Gemeinschaft entsteht, wenn es ­gelingt, dass Angehörige verschiedener Generationen und kultureller Herkunft beteiligt werden.

Es ist ein wichtiger Akt gegen das Vergessen, wenn Schüler:innen Biografien von ermordeten oder ­inhaftierten Menschen erforschen und ihre Erkenntnisse in das Gedenken einbringen. Das hinterlässt nicht nur Eindruck bei den Teilnehmenden, sondern auch Spuren im Leben der Jugend­lichen: Sie werden selbst zu Zeuginnen der Zeugen.

Auch das Lernen an kirchlichen Erinnerungsorten setzt auf Begegnungen und spirituelles Erleben. Das ist unser Plus gegenüber dem Lernen aus dem Schulbuch. Der von den Nazis verfolgte jüdische Philosoph Walter Benjamin (1892–1940) sammelte die Erinnerungen der Toten, ihre Geschichten, mitten im Krieg. So sollen auch wir nicht vergessen, sondern uns erinnern, auch und gerade in Kriegszeiten: an die Menschlichkeit, die das höchste Gut ist.

Marion Garde ist Beauftragte gegen Antisemitismus und für Erinnerungskultur in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).