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Gedenken auf TikTok – Wenn alte Erinnerung junge Menschen erreicht

Weniger Pathos und klarere Worte – das fordert Susanne Siegert. Ihre Aufklärungsarbeit über die NS-Zeit auf Social Media ist preisgekrönt. Von seriösen Institutionen wünscht sie sich mehr Präsenz.

Influencerin Susanne Siegert setzt sich in den sozialen Medien für eine zeitgemäße Erinnerungskultur ein und warnt vor dem Vergessen der NS-Verbrechen
Influencerin Susanne Siegert setzt sich in den sozialen Medien für eine zeitgemäße Erinnerungskultur ein und warnt vor dem Vergessen der NS-VerbrechenImago / snapshot

Auschwitz – dieser Name gilt als Inbegriff für industriell begangenes Töten; er steht für eine Monstrosität, nach der es für den Philosophen Theodor W. Adorno „barbarisch“ wäre, weiter Gedichte zu schreiben. Allerdings: Laut einer Umfrage aus dem Frühjahr sagt der Name des größten NS-Konzentrationslagers jedem zehnten jungen Erwachsenen hierzulande nichts. Zeitzeugen sterben, zuletzt die Tänzerin Ruth Posner oder Margot Friedländer, die noch bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt rief: „Seid Menschen!“.

Verblasst also die Erinnerung an die Naziverbrechen? Eine, die gegensteuert, ist Susanne Siegert, geboren 1992. Auf Sozialen Medien erreicht ihr Account @keineerinnerungskultur über 400.000 Follower; im Vorjahr wurde sie für ihre Aufklärungsarbeit mit dem Grimme-Online-Award geehrt. „Natürlich sollte man Auschwitz benennen können“, sagt Siegert im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Ob man die Relevanz des Themas erkenne, hänge jedoch nicht davon ab, „ob man jedes Lager aufzählen kann“.

Verbrechen geschahen nicht weit entfernt

Aufzählen würden wohl die wenigsten das Außenlager Mühldorfer Hart in Oberbayern, wohin ab Juli 1944 über 8.000 Häftlinge verschleppt wurden. Für Siegert waren Recherchen zu diesem Außenlager nahe ihres Heimatortes der Auslöser für ihre Social-Media-Accounts, die vor fünf Jahren an den Start gingen, und für ihr Buch „Gedenken neu denken”, das am Freitag (31. Oktober) erscheint. „Wir besuchen Auschwitz, machen die Guided Tour durchs Stammlager mit, schütteln den Kopf über die anderen Touristinnen und Touristen, die trotz Verbotsschildern Fotos in der ehemaligen Gaskammer machen“, schreibt die Autorin. Solche Orte umgebe „eine trügerische Exotik“.

Dagegen sei es „ein Aha-Moment, zu erkennen, dass sich dieses abstrakt verortete Geschehen vor der eigenen Haustür abgespielt hat“. Es mache einerseits deutlich, wie sehr das NS-System alles durchdrungen habe, andererseits auch, „wie sichtbar bestimmte Verbrechen waren“.

Siegert legt den Finger in die Wunde, wenn sie Befragungen zitiert, nach denen über zwei Drittel der Menschen in Deutschland angeben, unter ihren Vorfahren seien keine Täterinnen und Täter gewesen. Dabei sei es nicht hilfreich, ausschließlich über „Hitler, Himmler und Heydrich“ zu sprechen – dann nämlich fühle sich Erinnerung an reale Geschehnisse an wie eine Geschichte, „die einen selbst nicht betrifft. Sie wird in Schwarzweiß-Bildern erzählt und wirkt sofort altertümlich.“

Wenn Studis präziser klingt als Nazis

Die lokale Nähe zu früheren Tatorten sieht die Influencerin als Möglichkeit, diese Geschichten greifbar zu machen, ebenso einen Blick in den eigenen Stammbaum – und eine andere Sprache. In ihren Videos spricht sie selten von „den Nazis“ und erläutert an einem Beispiel, warum: Die Bücherverbrennung, die sie dort kürzlich thematisierte, „das waren deutsche Studentenschaften, Studis. Das klar zu benennen, verändert die Perspektive“.

Von Medien wünscht sie sich, vorhandenes Material besser zu nutzen, statt ständig neues zu produzieren. „Es braucht nicht jedes Jahr kurz vor Gedenktagen neue Interviews von jedem lokalen Radiosender, mit Senior:innen, die möglichst kompakt und mediengerecht ihre schmerzhaften Erinnerungen nochmal erzählen sollen, sondern mehr Beschäftigung damit, das, was sie schon einmal gesagt haben, nicht versanden zu lassen.“ In diesem Zusammenhang sieht Siegert zudem Gedenkinstitutionen gefragt, die oft keine – oder keine gute – Social-Media-Strategie hätten.

Vom Bekenntnis zur Worthülse

Ritualisiertes Gedenken habe durchaus eine Berechtigung, sagt die Expertin. Allerdings erklärt sie auch, warum ein Ausspruch wie „nie wieder“, ursprünglich ein Ausdruck jüdischer Selbstbehauptung, nicht so inflationär genutzt werden sollte, bis er gar kein Bekenntnis mehr ist. Auch Slogans wie „AfD wählen ist so 1933″ nimmt sie auseinander – als eine Art moralischer Erpressung, die „recht wenig mit Gedenken zu tun“ habe.

Der Erfolg der AfD und grassierender Antisemitismus spielten für ihre Arbeit durchaus eine Rolle. „Manche heutigen Akteurinnen und Akteure spielen mit Vokabular aus der Nazizeit oder schrecken zumindest nicht davor zurück“, erklärt Siegert. Dagegenhalten sei ihr wichtig – auch wenn sie wisse, „dass keines meiner Videos Menschen davon abhalten wird, sich antisemitisch zu äußern oder die AfD zu wählen“.

Häufig werde erwartet, dass genügend Aufklärung über den Holocaust heutige Menschenfeindlichkeit verschwinden lasse. Siegert zitiert in diesem Zusammenhang den Historiker Ulrich Herbert, der bereits vor einem Vierteljahrhundert mahnte, man müsse nichts über die SA wissen, „um zu wissen, dass man das Haus der türkischen Nachbarn nicht anzünden darf“. Siegert fügt hinzu, dass Lehren für die Gegenwart nicht darüber entscheiden dürften, ob man überhaupt über Geschichte spreche. „Das finde ich respektlos gegenüber den Opfern“, erklärt sie. Man könne nicht sagen, „aus diesem Massenmord muss zumindest eine Wahlempfehlung entstehen. Hilfreich kann es aber sein, Muster zu erkennen: Warum brennen heute bestimmte Häuser, und warum kommen Menschen erst so spät zu Hilfe?“