Ganz mit dem Augenblick verschmelzen

Open-Air-Konzerte und Festivals haben im Sommer Hochkonjunktur. Viele Menschen gehen gern auf Konzerte unter freiem Himmel – die Musikrichtung kann dabei sehr variieren. Wissenschaftler haben dafür verschiedene Erklärungen

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In seinem Bestseller „Homo Deus“ vergleicht der israelische Historiker Yuval Noah Harari die Verehrung antiker Pharaonen mit dem Kult um Elvis Presley. In beiden Fällen sei der Mythos rund um die Figur wichtiger gewesen als die lebende Person; dem Erfolg der „Marke“ habe auch der Tod eher genützt als geschadet.
Viele Fans nähmen es mit dem Unterschied zwischen Realität und Wunschdenken nicht so genau, sagt auch Harald Lange. Er forscht am bundesweit einzigartigen Institut für Fankultur in Würzburg. Elvis Presley sei durch seine Musik bis heute stets präsent: „Der Großteil des Fanseins spielt sich virtuell ab, über das Anschauen von Videos, das Anhören von Musikbändern.“ Die Musik­industrie arbeite aktiv daran, dass Künstler über ihren Tod hinaus pro-duktiv blieben: „Irgendwo gibt es immer noch unentdeckte Aufnahmen, oder es erscheinen Best-Of-Alben.“

Für ein Live-Konzert nehmen Fans viel in Kauf

Einer Art von Erlebnis allerdings setzt der Tod ein Ende: dem Besuch von Live-Konzerten. Zwar gibt es Versuche, verstorbene Künstler in Gestalt von Hologrammen wieder heraufzubeschwören; durchgesetzt hat sich diese Technik, die auf manchen Beobachter befremdlich wirkt, bislang jedoch nicht. Doch warum gehen Menschen überhaupt so gerne auf Konzerte? Was ist das Besondere an Livemusik – in einer Zeit, in der doch im Digitalen alles jederzeit und überall verfügbar ist?
Lange sieht gerade in der Unmittelbarkeit des Erlebens eine Erklärung dafür, dass Musikliebhaber lange Warteschlangen, mitunter horrende Ticketpreise und umständliche Anreisewege in Kauf nehmen. Es werde schwieriger, Gemeinschaften zu finden und zu leben. „Zugleich haben wir Möglichkeiten, ein Gemeinschaftsgefühl zumindest partiell – für einen Moment, einen Tag, eine Woche – erlebbar zu machen. Durch Urlaube, Sportveranstaltungen oder eben Konzerte.“ Die Dramaturgie vor Ort sorge dafür, dass alle Anwesenden sich auf dieses eine Ereignis fokussierten. „Wir genießen das Gefühl, mit dem Ereignis, das nur hier und jetzt stattfindet, zu verschmelzen.“
Der Musikwissenschaftler Michael Kaufmann sieht es ähnlich. Auch suchten die Menschen nach Ereignissen, die den Alltag aufbrechen. „Eine Zäsur, ein Ruhepunkt, auf andere Gedanken kommen: Diese Impulse sind unbedingt notwendig, um aus dem Hamsterrad des Alltags herauszukommen.“ Insofern könne eine CD ein Live-Konzert niemals ersetzen. „Die Definition eines musikalischen Kunstwerks ist klar: Ein Musikstück erklingt immer nur einmal in einer Interpretation – in dem Moment, in dem es erklingt. Alles andere kann diesen Moment nur dokumentieren.“
Genau das versuchen viele Menschen, wenn sie bei Konzerten mehr mit ihren Smartphone-Kameras beschäftigt sind, als mit dem Geschehen auf der Bühne. Immer mehr Musiker beklagen sich darüber. „Seit alle nur noch ihre Handys hochhalten, ist es wahnsinnig frustrierend, Konzerte zu geben“, sagte der Rockmusiker Jack White kürzlich im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“. Es entstehe keine Verbindung mehr zwischen ihm und dem Publikum. Popstar Justin Bieber hat Auftritte wegen Handy-Frusts ebenso abgebrochen wie der polnische Pianist Krystian Zimerman. Andere Künstler lassen die Telefone der Gäste sperren.
Fanforscher Lange kann verstehen, dass Menschen manchen „genialischen Moment für die Ewigkeit einfangen“ möchten. „Sie opfern ein Stück der Gegenwart, indem sie das Handy nutzen, die Kamera einstellen, sich womöglich selbst in Szene setzen. Das tun sie im Hinblick auf die Zukunft, um den Moment in zwei Stunden oder zwei Wochen noch einmal ansehen zu können.“ Die Hoffnung, die Unmittelbarkeit wiederholen zu können, sei eine Illusion. „Höchstens entsteht der Effekt wie bei Urlaubsfotos“, meint Lange: „Eine schöne Erinnerung, aber ohne das Genialische.“
Kaufmann verweist zudem auf die historischen Wurzeln von Konzerten. In der Autonomie der Kunst hätten die Bürger spätestens in der Epoche der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts eine Befreiung von staatlicher oder auch kirchlicher Obrigkeit gesucht. Um 1900 sei die Zahl der Gottesdienstbesucher beispielsweise in Berlin gesunken, die Zahl der Konzertgänger dagegen gestiegen. Zugleich wurden in vielen Konzertsälen sukzessive Orgeln installiert – „auch, um den sakralen Charakter der Kunst zu unterstreichen“.

Parallelen zum Besuch eines Gottesdienstes

Heute gebe es durchaus Parallelen zwischen Gottesdienst- und Konzertbesuch, sagt Kaufmann. Beides sei ein gesellschaftliches Ereignis: „Menschen gehen manchmal in anderer Kleidung in die Kirche, als sie an Werktagen unterwegs sind, denn es geht um etwas Besonderes. Auch für klassische Konzerte zieht man sich schick an, und bei Popkonzerten wählen viele ein nicht-alltägliches Outfit.“
Auf der Ritualebene, durch bestimmte Abläufe oder das Mitsingen von Liedern, gebe es ebenfalls Gemeinsamkeiten, ergänzt Lange. Aber: „Die Herangehensweise unterscheidet sich stark. Konzerte besuchen die Menschen in erster Linie, weil sie unterhalten werden möchten.“ Das bestätigt Kaufmann. Beides, Kirchgang und Konzertbesuch, könne jedoch neue Erfahrungen ermöglichen. Und: „Viele Menschen verspüren eine religiöse Sehnsucht oder sind zumindest auf der Suche nach spirituellen Erfahrungen – und haben zugleich einen hohen Anspruch an kulturelle Veranstaltungen. Im Gottesdienst und im Konzert ist es möglich, diese Wünsche zu befriedigen.“