Ganz langsam geht es voran
Die Katastrophe ist noch frisch in den Köpfen der betroffenen Menschen im Ahrtal. Seit der Flut ist ein Jahr vergangen
Ein Jahr ist es her. Am 14. Juli brach die Flut ins Ahrtal. Über 130 Menschen sind damals gestorben, Tausende von Häusern, Schienen und Brücken zerstört worden. Wie ist die Situation heute? Ein Zustandsbericht aus einer Gegend, in der die Fortschritte sichtbar sind. Doch es wird Jahre dauern, bis im Ahrtal wieder ein ganz normales Leben stattfinden kann.
Kurz vor zehn Uhr am Abend ging Doris Fuhrmann noch einmal auf ihren Balkon. Da sah sie eine braune Brühe die Straße hinunterfließen. Eine Viertelstunde später war daraus ein reißender Bach geworden, der zuerst die Mülltonnen mitnahm und dann die Autos. Bei einigen von ihnen brannten die Scheinwerfer. „Es war furchtbar“, erinnert sie sich, „keiner wusste, ob da Menschen drin sitzen.“
Die 75-Jährige wohnt in einem Mietshaus in Bad Neuenahr, 200 Meter vom Flussufer entfernt. Vor zehn Jahren war sie aus Württemberg in ihre alte Heimat im Norden von Rheinland-Pfalz zurückgezogen, auch weil sie das Flusstal, die steilen Berge und malerischen Weinlagen so liebt. 2022 hätte vor ihrer Haustür eine Landesgartenschau stattfinden sollen.
Nun war ihr Tal verwüstet. Sie hat viel Glück gehabt, das Wasser stieg nicht zu ihr in den ersten Stock hinauf. „Ich bin Gott dankbar, dass ich davongekommen bin“, sagt sie noch heute. Auch ein Jahr nach der Flut gibt es auf der anderen Straßenseite noch immer ein Containerdorf mit Notunterkünften. Auf etwa 17 000 wird die Zahl derer geschätzt, die in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ihr Hab und Gut verloren haben. 43 Brücken stürzten ein, 27 Schulen und Kindergärten wurden beschädigt, 134 Menschen starben.
Etwa einen Kilometer entfernt von Doris Furhrmanns Wohnung steht die evangelische Lutherkirche. Die Preußen haben sie ins katholische Ahrtal gebaut, ein monumentales Gebäude der Neugotik im repräsentativen Umfeld eines mondänen Kurortes.
Seit dem 15. Juli 2021 fand dort kein Gottesdienst mehr statt. Die Kirche am Flussufer blieb zwar stehen, doch die Inneneinrichtung wurde komplett unbrauchbar. „Frühestens 2023“, schätzt Pfarrer Friedemann Bach, „kann wiedereröffnet werden, vielleicht auch erst 2024.“
Bach ist einer von drei Seelsorgern der evangelischen Kirchengemeinde im Ahrtal. Er wohnt am Berg, war nicht direkt betroffen, doch sein Kollege und der Kirchengemeinderatsvorsitzende verloren ihre Bleibe. Rund 20 Mitglieder seiner Gemeinde starben direkt in den Fluten, andere in den Wochen und Monaten danach: „Viele haben das nicht verkraftet, was passiert ist“, sagt Bach. „Es gab auch Suizide.“
Ein Glücksfall für die Gemeinde war immerhin, dass die kleine Friedenskirche im Nachbarort Ahrweiler unbeschadet blieb. Sie dient seither als Gottesdienstort für alle, ein Zusammenrücken der Menschen, die wie noch nie zuvor aufeinander angewiesen waren.
Wenn Friedemann Bach (61) durch die zerstörten Untergeschossräume des Gemeindehauses in Bad Neuenahr geht, stehen ihm immer noch die Sorgenfalten auf der Stirn. Das komplette Archiv und die meisten Computer soffen ab, nach und nach wird nun alles saniert, Raum für Raum entkernt und neu verputzt.
Von Dutzenden seiner Gemeindemitglieder weiß er noch immer nicht, wo sie abgeblieben sind. Wer weggeht, ohne sich abzumelden, dessen Spur verliert sich. Viele haben das Ahrtal verlassen und manche werden auch nicht wieder zurückkehren. „Nicht alles kann wiederaufgebaut werden“, sagt Bach mit düsterer Miene.
Seit 28 Jahren ist der gebürtige Sachse Pfarrer im Ahrtal. Kurz nach der Flut bekam er Besuch aus seiner alten Heimat. Ein Schulfreund aus Grimma stand vor der Tür, der dort 2002 die Hochwasserkatstrophe erlebt hatte. „Wo kann ich helfen?“, fragte er. Schaufel, Spaten und ein Allradfahrzeug hatte er mitgebracht.
Es waren diese Dinge, die Friedemann Bach Mut gemacht haben. Die große Hilfsbereitschaft aus ganz Deutschland, die Solidarität der Menschen mit den Flutopfern im Ahrtal: „Ohne die Hilfe von außen wären wir nicht so weit“, sagt Friedemann Bach.
Er führte erstaunliche Gespräche in dieser Zeit. Erlebte Menschen, wie sie mit Gott hadern und Stoßgebete gen Himmel schicken. Zu den eindrücklichsten Dingen, die er erlebt, gehört die Begegnung mit Senioren, die plötzlich ein ganz anderes Bild von der Jugend bekamen: An die Stelle von Skepsis trat Hochachtung für die, die wochenlang unentgeltlich da waren und halfen.
„Danke“. Ein riesiges Banner hängt am Zaun hoch über dem Tal von Dernau. Überall finden sich ähnliche Plakate. Die Wertschätzung für die große Hilfe, die sie erfahren haben – die Menschen im Ahrtal bringen sie zum Ausdruck.
„Es war wunderbar“, sagt auch Christa Storch (46). Eines Tages standen zwei junge Frauen bei ihr vor dem Wirtshaus und fragten, was sie tun könnten. Christa Storchs Gasthof Assenmacher ist einer der wenigen Betriebe in Altenahr, die wieder geöffnet haben. Am 20. Mai war es endlich so weit: Nach Monaten der Küchensanierung, Schlammbeseitigung und Gartenneugestaltung konnten sie nun endlich wieder Gäste begrüßen. Sie kamen gleich in großer Zahl, der Gasthof kann sich über eine fehlende Auslastung nicht beklagen.
Wie eine Oase der Hoffnung sticht das Assenmacher aus der Vielzahl der noch immer geschlossenen Häuser heraus. Altenahr gehört zu den besonders stark von der Flut betroffenen Orten. Davor war es ein Ziel vieler Busreisen, mit Dutzenden von Gastronomiebetrieben.
Viele von ihnen streiten sich noch immer mit der Versicherung, andere haben resigniert aufgegeben. „Zum Glück“, sagt Christa Storch, „hatten wir gute Verträge, zwei Jahre Betriebsausfallversicherung inklusive.“ So konnte fast die gesamte Belegschaft gehalten werden.
Einer, der sich in Altenahr auch kämpferisch gibt, ist Jungwinzer Lukas Sermann (32). Seine Kelterhalle ist wieder in Betrieb, demnächst soll auch die Vinothek fertig sein. Sein Haus ist nicht weit weg vom Bahnhof. Der steht nun einsam am Flussufer, die Gleise jedoch fehlen. „Als ob King Kong sie herausgerissen und verbogen hätte“, erinnert er sich an den Tag der Flut.
Tief beeindruckt hat ihn, als plötzlich Winzerkollegen aus Baden-Württemberg mit schwerem Gerät bei ihm vor dem Weingut standen und fragten, wo sie anpacken könnten. Freunde oder Verwandte hat er in der Nacht zum Glück nicht verloren, „sonst könnte ich nicht einfach so mit Ihnen sprechen“.
Der Wiederaufbau der Bahnlinie soll bis 2025 erfolgen – wenn es gut läuft. Derzeit ist auf halber Strecke in Walporzheim Endstation. Langsam, ganz langsam geht es voran. Das hat nicht nur mit verzögerten Auszahlungen der Gelder zu tun, sondern mit der schieren Menge der Sanierungsprojekte, die hier auf Erledigung warten.
Auch die Touristiker im Tal wollen da nichts schönreden. Sie stellen sich im Gegenteil dem Thema und bieten seit Mai an den Wochenenden Wiederaufbauführungen in Bad Neuenahr und Ahrweiler an. Sie gehen an der mittelalterlichen Stadtmauer entlang, die erstaunlicherweise fast komplett standhielt. Überall hämmert es, sind die Handwerker dabei, die Läden und Gaststätten wieder auf Vordermann zu bringen. So lange, bis alle wieder einziehen können, gibt es sogenannte Pop-up-Malls, kleine Einkaufszentren in Containern, die die Versorgung der Bevölkerung und das Einkommen der Besitzer sichern sollen.
Je weiter man die Hänge hochgeht, desto mehr gleicht das Ahrtal jenem Idyll, das es bis zum 14. Juli 2021 war. Ganz unten plätschert friedlich ein flaches Flüsschen durchs Tal, bei dem man heute noch kaum begreifen kann, dass es eine solch zerstörerische Kraft entfalten konnte.