Gänsehautgefühle beim Einschlafen

Wiegenlieder sind tief in der Kultur verankert und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Ihre sanften Rhythmen helfen beim Einschlafen. Warum das so ist, ist bis heute nicht geklärt. Die Musikwissenschaftlerin Franziska Weigert (Uni Regensburg) beschäftigt sich mit deutschen Wiegenliedern und forscht am Max-Planck-Institut in Frankfurt am Main zu diesem Thema.

epd: Frau Weigert, Wiegenlieder gelten als eine sichere Einschlafhilfe für die Kleinsten. Welcher Effekt ist das, der Kinder zum Einschlafen bringt?

Franziska Weigert: Dieser Effekt ist weitaus weniger eindeutig, als man vermuten mag. Wir haben noch keine eindeutigen Belege dafür, dass explizit Wiegenlieder beim Einschlafen helfen können. Was wir wissen, ist, dass über das Vorsingen, vor allem das Regelmäßige durch Eltern oder Verwandte, dass über deren Stimme Emotionen bei den Kindern reguliert werden können. Durch die Regelmäßigkeit des Vorsingens und durch die Nähe dabei werden Sicherheit und Stabilität vermittelt, was den Kindern beim Entspannen und dementsprechend beim Einschlafen hilft.

epd: Warum werden dafür Wiegenlieder eingesetzt?

Weigert: Das liegt daran, dass sie musikalisch eine relativ ruhige Struktur aufweisen. Das gilt kulturübergreifend, also nicht nur im westlich geprägten Musikraum. Und dass sie Repetition zulassen. Je häufiger man sie wiederholen kann, desto besser für den täglichen Gebrauch.

epd: Man kann also nicht sagen, dass Wiegenlieder aufgrund ihrer Struktur das Gehirn der Kinder beeinflussen?

Weigert: Die einschlaffördernde Wirkung von Musik im Allgemeinen ist wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt. Dazu gibt es im Moment extrem viel Forschung. Ich schätze, dass man in zwei bis drei Jahren deutlich mehr dazu sagen kann. Man weiß bis zum jetzigen Zeitpunkt nur, dass es da einen Zusammenhang gibt, und dass Menschen autoregulierend Musik verwenden. Dass sie sich – intuitiv oder auch erlernt – des Zusammenhangs bewusst sind, dass Musik ihnen beim Einschlafen helfen kann, weil fast alle Menschen Musik mögen und damit positive Emotionen verbinden. Aber man kann nicht sagen, dass dieselbe Musik für alle Menschen dieselbe Wirkung hat. Man weiß inzwischen, dass der persönliche Präferenzfaktor eine extrem wichtige Rolle spielt.

epd: „Guten Abend, gute Nacht“ von Johannes Brahms ist eines der bekanntesten Wiegenlieder. Es wird heute noch gesungen, obwohl seine Sprache antiquiert („Näglein“ sind Nelken) ist. Wie kommt das?

Weigert: Normalerweise ist die Musiksozialisation etwas, was die eigene Biografie stark prägt, vor allem im Jugendalter. Wiegenlieder hingegen werden oft von Generation zu Generation weitergegeben. Das heißt, wir beginnen unsere musikalische Sozialisation, indem wir von unseren Bezugspersonen Musik vorgesungen bekommen. Eigenen Kindern singt man später im Leben wahrscheinlich wieder dieselben Lieder vor. Dadurch kommunizieren die Generationen miteinander.

Meine Vermutung ist, dass sich durch die Weitergabe von Wiegenliedern zwischen den Generationen so ein Dialog entspinnt. Und so überspringen Wiegenlieder einfach mal Jahrzehnte, wodurch Wiegenlieder wie das von Brahms lange im kulturellen Gedächtnis bleiben können. Der weltweit ungebrochen große Erfolg von Brahms Wiegenlied lässt sich mit dieser Beobachtung aber trotzdem nicht ganz erklären.

epd: Klappt diese Weitergabe noch, wenn weniger gesungen oder dieses von Medien übernommen wird?

Weigert: Das ist eine der Fragen, die wir uns am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik stellen, die hoffentlich bald in Teilen beantwortet werden kann. Der Rückgang des akustischen Live-Singens zugunsten von Streaming-Medien oder allgemeinen Audiomedien finde ich sehr bedauerlich, weil durch das Singen so viel mehr an Prozessen in Gang gesetzt wird als durch das bloße Hören. Das reine Hören von aufgenommener Musik hat eine weitaus geringere Wirkung als Livemusik und aktiv ausgeübte Musik.

Es gibt zum Beispiel Studien zum Einsatz von Wiegenliedern auf Frühchen-Stationen. Da hat man festgestellt, dass durch den multisensorialen Dialog beim Vorsingen – man ist im gemeinsam im Raum, hat Körperkontakt, spürt Nähe und Geruch – die Sauerstoffsättigung der Frühgeborenen steigen und die Eltern-Kind-Bindung begünstigt werden kann. Vorsingen ist zudem eine Form von musikalischem Mentoring. Ich glaube, wir unterschätzen, wie durch informelles Musizieren auch die musikalischen Fähigkeiten von Kindern angestoßen werden. Wenn einem das wichtig ist bei der Entwicklung der eigenen Kinder, dass sie ihre Grundmusikalität weiterentwickeln, ist es wichtig, Musizieren vorzuleben.

epd: Welches ist Ihr liebstes Wiegenlied?

Weigert: „Die Blümelein, sie schlafen“ von Johannes Brahms. Das ist das Lied, das mir als Kind vorgesungen wurde. Wenn mir ein anderes vorgesungen worden wäre, wäre es sicher das. Daher ist es für mich das emotionalste Wiegenlied, auch wenn ich bei anderen ebenso Gänsehaut bekomme.