„Fürchtet euch nicht!“

Der Ruf der Engel gilt auch uns in diesen verunsichernden Zeiten. Ob wir bereit sind, diesen Satz zu hören?

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Es geht einige Zeit ins Land, bevor in der Weihnachtsgeschichte gesprochen wird. In der Erzählung, die wie kaum eine andere Erzählung zu unserer Kultur gehört, wird zunächst gehandelt. Keine Zeit für Worte! Menschen sind unterwegs, um sich erfassen zu lassen. Es wird eine notdürftige Behausung zur Nacht gesucht. Ein Kind wird geboren und in Windeln gewickelt. Eine Futterkrippe dient als Bett. Und immer noch hat kein Mensch gesprochen. Von Hirten, die des Nachts pflichtgemäß ihre Herde hüten, wird erzählt.

Das erste gesprochene Wort in jener Erzählung fällt gleichsam vom Himmel – das erste Wort über diesem Geschehen spricht ein Engel. „Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude!“ Zu dem Kind in Bethlehem kommen zuerst nicht die Verwandten, sondern fremde Menschen noch in der Nacht seiner Geburt, um es anzuschauen und darüber Gott zu loben.

Hier wird Weltgeschichte geschrieben

Gott sei Dank spricht der Engel, denn sonst hätte wohl kein Mensch wahrnehmen können, dass hier Weltgeschichte geschrieben wird. Man sieht es dem Kind in der Krippe nicht an, dass es der Sohn Gottes ist, der da die Windeln beschmutzt und nach dessen Geburt bis heute die Zeiten und unsere Jahre eingeteilt werden. Man muss noch heute darauf hingewiesen werden, wie die Ereignisse um Jesus aus Nazareth recht zu verstehen sind. Dafür sind die Worte des Engels genau richtig; sie sind notwendig, um zu verstehen.

Auch in der heiligen Nacht des zu Ende gehenden Jahres treten gebildete, spöttische und schlichte, religiös interessierte und religiös unmusikalische Menschen an die Krippe und schauen auf das neugeborene Kind – und viele beten es an. Warum?

Nun, es wird zahlreiche Gründe dafür geben, denn es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungen mit jener berühmtesten Erzählung der Menschheitsgeschichte. Ich möchte Auskunft darüber geben, warum sie mir ans Herz gewachsen ist und zudem mein Denken bestimmt. Höher und liebevoller als in dieser Erzählung von der Geburt Jesu in Bethlehem kann man nicht vom Leben und von der Welt denken und sprechen. Ich möchte das beschreiben.

Alles unter Kontrolle

Wir leben in einem Land, das bei seinen Nachbarn bekannt ist für seinen Leistungswillen und seine Bürger für Strebsamkeit und Pünktlichkeit. Wir sind stolz darauf, möglichst alles unter Kontrolle zu haben. Wir wollen auch gern besser sein als andere. Wir produzieren für die ganze Welt starke Maschinen. Und eigentlich wollen wir immer Weltmeister sein! Und wenn eine Gesellschaft nur noch zu siegen gewohnt ist, in der Wirtschaft, im Sport und in der Medizin, werden die Menschen in dieser Gesellschaft der Sieger bis ins Mark getroffen, wenn sie die Kontrolle verlieren. Und dann noch durch ein unscheinbares, aber unberechenbares Virus.

Landesbischof Karl-Hinrich Manzke
Landesbischof Karl-Hinrich ManzkeNorbert Neetz / epd

Vielleicht vermittelt uns der Lauf des Jahres 2020 die Erkenntnis, dass wir die Würde des Menschen insgeheim längst gleichgesetzt haben mit Erfolg und Siegermentalität. Und mit einer unbegrenzten Selbstbestimmung, die nicht dulden mag, wenn andere Kräfte über uns mitbestimmen.

Ein ganz anderes Bild von der Würde des Menschen wird in der lukanischen Weihnachtsgeschichte vorgeführt. Die Würde und Bedeutung des Lebens wird hier nicht über glänzende Erfolge und übergroßes Ansehen definiert. Schon gar nicht über die Selbstbestimmtheit des Lebens – von der Wiege bis zur Bahre.

Unendliche Würde

Sondern das bedürftige und gefährdete Leben hat eine unendliche Würde, die niemand von ihm nehmen kann und darf. Auf das Leben mit seinen engen Grenzen und Gefahren fällt ein unerwartetes, ein wunderbares Licht. Eben das Licht des Himmels. Die Bedürftigkeit ist und bleibt der Grundzug des menschlichen Lebens. Und es macht die Würde des Lebens aus, diese Bedürftigkeit annehmend zu erkennen, sie auszuhalten und mit ihr das Leben zu gestalten. Gott sei es gedankt, diese Erzählung von der Geburt in Bethlehem gehört in die Mitte unseres kulturellen Selbstverständnisses. Und da, in der Mitte, soll sie bleiben!

Weil sie aufräumt mit dem Wahn, nur das erfolgreiche und vollständige Leben habe seinen Wert und seine Würde. Denn Totalitätserwartungen überfordern das Leben. Weil sie zu blinder Wut und ungebändigter Angst führen können, wenn ein Kontrollverlust uns überrascht.

Wozu die Geschichte aufruft

Sie lehrt regelrecht Mut zur Endlichkeit, diese Erzählung. Für alle, die krank sind und mit einer furchtbaren Diagnose konfrontiert leben. Für die, die in Medizin und Pflege darüber weinen, dass nicht jedes gefährdete Leben gerettet und geheilt werden kann.

Für alle Machenschaften der Menschheit, die Herrschaft zu gewinnen über das Leben und den Tod, über die Ressourcen der Schöpfung, ruft diese Geschichte zu freiwilligem Verzicht und lockt zur Tugend der Geduld. Darin hat sie auch eine politische Dimension. „Fürchtet euch nicht!“ – diese Worte aus dem gestirnten und zugleich offenen Himmel über einer verunsicherten Menschheit ruft uns der Engel zu! Ob wir bereit sind, sie zu hören?

Unser Autor
Dr. Karl-Hinrich Manzke, Bückeburg, ist Landesbischof der Landeskirche Schaumburg-Lippe.

Gesegnete Weihnachten wünschen Ihnen Redaktion und Verlag Ihrer Kirchenzeitung.