Frischer Wind unter die Flügel

Geistesfrische, lebendige Kraft – dafür steht Pfingsten, sagt die Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck. Die Pfingstgeschichte zeigt, wie Menschen aus der Depression heraus zu neuen Ufern aufbrechen – etwas, aus dem wir heute lernen können.

An der Küste gibt es meistens ordentlich Gegenwind
An der Küste gibt es meistens ordentlich GegenwindPicture Alliance/imageBroker

An der Nordsee, wo ich aufgewachsen bin, bläst einem der Wind immer von vorn ins Gesicht; Gegenwind zu haben gehört zu meinen tief verankerten Kindheitserinnerungen, allemal auf dem Fahrrad.

Frische Luft hat noch keinem geschadet, lautete die mütterliche Parole. Und auf ging’s zu neuen Ufern. Wind von vorn setzt eigene Vitalität frei, du strengst dich an, bekommst rote Backen und erreichst irgendwann das Ziel!

Neue Kraft

Wind von vorn gibt neue Kraft, nicht nur körperlich. Sich im Denken, Fühlen, Glauben mit dem auseinanderzusetzen, was sperrig ist und erst einmal gar nicht nach der Mütze, ist anstrengend, aber gerade darin auch interessant, voller Spannkraft und Tiefensinn. Ich liebe diese Begegnungen, wenn es auf einmal ganz wahrhaftig wird, wenn Energie entsteht und Gedankenfreiheit, Momente, die Wind unter die Flügel geben, weil sich neue Perspektiven auftun!

Pfingsten ist für mich genau dies: Geistesfrische, lebendige Kraft, Auftrieb. Großartig doch diese Pfingstgeschichte, in der die Menschen zunächst niedergedrückt, im Wortsinne: depressiv, beisammen sind, auf der Suche danach, wer sie denn jetzt noch sind, ohne Jesus. Und dann weht der Geist, wie er will – die Menschen sind ganz durcheinander vor Glück. Sie sind sich nahe wie nie, singen und teilen das Brot, selig, sich – neu – gefunden zu haben.

Bischöfin Kirsten Fehrs
Bischöfin Kirsten FehrsMarcelo Hernandez / Nordkirche

Diese Geschichte klingt wie ein Sehnsuchtsort in dieser langen Zeit der Einschränkungen. Die hungrige Seele dürstet nach Brot und Rosen, Gemeinschaft und Choral. Genauso wie damals in Jerusalem. Dort waren „alle an einem Ort beieinander“, heißt es. Das jüdische Wochenfest führte sie zusammen. In der Gemeinschaft ganz ohne Trennung und Abstand entsteht Geistbewegung! Die Menschen beginnen zu reden, verstehen sich sogar und tragen fortan begeistert Jesu Hoffnung in die Welt. Die christliche Kirche ist geboren.

Pfingsten 2020. Der Wind weht wieder, und er braucht die Präsenz eines jeden von uns, unsere Geistesgegenwart – für eine mitmenschliche Gemeinschaft. Das bedeutet doch: guten Geist in die Gesellschaftsdebatte hineinzutragen. Jetzt.

Systemrelevanter Pfingstgeist

Wir brauchen den Pfingstgeist, der neue Perspektiven eröffnet. Der Auftrieb gibt und Zuversicht. Der die Traurigen tröstet und um Frieden ringt, wenn Aggressionen sich austoben wollen. Systemrelevant, dieser Pfingstgeist. Denn es scheint, als wären viele Menschen nach den Corona-Lockerungen wie in einem kraftraubenden Zwischenzustand. Gar nicht so erleichtert. Eher ausgebremst, fast deprimiert. Man weiß nicht, was wird. Urlaub oder lieber doch gleich zu Hause bleiben? Einige sind misstrauisch und aggressiv, andere wissen alles besser. Wir suchen die neue „Normalität“, wissen aber nicht, wie das geht. Welche Norm soll die Normalität prägen?

Am jüdischen Wochenfest, aus dem ja Pfingsten hervorgegangen ist, erinnert man alljährlich die Zehn Gebote. Kurz und klar formulieren sie Leitlinien. Du sollst nicht töten. Wenn Leben in Gefahr gerät, sollst du es schützen. Das ist das eine. Zugleich gelten andere Gebote, ebenso unmissverständlich: Du sollst Vater und Mutter ehren. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst also die Beziehungen nicht zerstören, auf die der Mensch für sein Leben angewiesen ist. Du sollst Menschen nicht trennen, die zusammengehören.

Klare Gebote – und ein Dilemma

Es gehört zu den furchtbaren Folgen der Pandemie-Schutzmaßnahmen, dass Pflegebedürftige ohne Besuch blieben, Jugendlichen wichtige Bezugspersonen fehlten und sogar Menschen allein sterben mussten. Und das siebte Gebot: Du sollst nicht stehlen. Heißt: Du sollst niemandem die materielle Grundlage seines Lebens nehmen. Nach den tiefen Eingriffen in das Alltags- und Wirtschaftsleben sind wir herausgefordert, Gerechtigkeit so zu leben, dass niemand unter die Räder gerät.

Die klaren, orientierenden Gebote offenbaren ebenso klar das Dilemma. Sie schützen, was der Mensch braucht: Leben und Gesundheit, seine Beziehungen, die materiellen Grundlagen. In der Pandemie nun erleben wir, wie diese Gebote miteinander in Konflikt geraten können.

Der Besuch am Sterbebett kann ein ganzes Pflegeheim infizieren. Die Schließung einer Kita kann ein Kind häuslicher Gewalt aussetzen. Der Shutdown ganzer Branchen kann in existenzielle Verzweiflung stürzen. Was ist richtig? Welche Gefahren muss man um welchen Preis abwehren? Und welche muss man in Kauf nehmen?

Neuer Blick aufs Ganze

Vielleicht hatte Paulus solche Dilemmata im Blick, als er schrieb: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Es geht eben nicht, entschlossen einem Gebot zu folgen und damit auf der ethisch „richtigen“ Seite zu sein. Gebote ersetzen nicht das Gewissen, sie bilden und schärfen es.

Eine der Lehren der Corona-Pandemie wird wohl sein, dass wir nicht einseitig einer Einzellogik folgen können: nicht der ökonomischen Logik, das wissen wir schon länger, ebenso wenig der Logik des Infektionsschutzes. Auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit oder der Klimaschutz sind unaufgebbare, aber eben niemals einzige ethische Handlungskriterien. Wir brauchen einen neuen Blick auf das Ganze. Und genau dafür Courage und frischen Wind unter die Flügel, von vorn!

Ihnen allen ein gesegnetes, lebendiges Pfingstfest!

Unsere Autorin
Kirsten Fehrs ist Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck in der Nordkirche.