Friedenspreisträgerin Assmann: Gemeinsinn wurde abtrainiert
In der Gesellschaft sei ein Menschenbild vorherrschend, wonach jeder autonom ist und für sich steht, kritisiert Aleida Assmann. Uralte Anstandsregeln blieben auf der Strecke, ebenso wie menschenfreundliches Handeln.
Die Kulturforscherin und Friedenspreisträgerin Aleida Assmann (77) fordert mehr Gemeinsinn in der Gesellschaft. “Der soziale Sinn ist im Menschen angelegt, wir haben ihn uns bloß systematisch abtrainiert”, sagte Assmann in einem Interview der Zeitschrift “Publik-Forum” (Freitag).
Es sei inzwischen “ein Menschenbild normativ geworden, dass jeder autonom ist und für sich steht”, kritisierte sie. Menschen könnten jedoch nicht in Beziehungslosigkeit leben. Der soziale Sinn habe zudem eine lange philosophische Tradition. “Vor allem jene Tradition, die Gemeinsinn als Orientierung am Gemeinwohl begreift.”
Assmann hält einen neuen Austausch über “uralte Anstandsregeln” für notwendig. Diese würden in allen Kulturen überliefert. Sie reichten von der Bereitschaft, einem Menschen, der nackt ist, Kleidung zu geben, bis hin zu der Pflicht, Hungernde mit Essen zu versorgen, auch wenn sie einem fremd seien. Es gehe um “grundmenschliche Beziehungen”. Diese finde man in der Bergpredigt Jesu, aber auch in zahlreichen antiken Quellen.
Assmann sagte, sie habe es sehr bedauert, dass 1997 der Versuch gescheitert sei, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen eine “Erklärung der Menschenpflichten” hinzuzufügen. Sie verstehe darunter “die Pflicht zu menschenfreundlichem Handeln, zu Wahrhaftigkeit und Toleranz, Gerechtigkeit, Partnerschaft”.
Assmann betonte: “Die Fähigkeit des Menschen zur Empathie hält ihn gesund und macht eine Gemeinschaft überlebensfähig. Wie alle Fähigkeiten muss man diese aber auch wertschätzen und von Kind an einüben.”
Aleida Assmann hat mit ihrem im Februar verstorbenen Mann Jan Assmann ein Buch über den Gemeinsinn veröffentlich. Zu den gemeinsamen Auszeichnungen, die das Paar erhielt, gehören der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 sowie die 2020 erfolgte Aufnahme in den Orden Pour le merite für Wissenschaften und Künste, eine der höchsten Ehrungen für Wissenschaftler und Künstler in Deutschland.