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Freundschaft mit den “kleinen Nazis”

Es ist ein bemerkenswertes Buch, das erstmals auf Deutsch erscheint: 1952, wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, kam der US-amerikanische Journalist Milton S. Mayer (1908-1986) für eine Recherchereise nach Marburg, um über die Verstrickung der „kleinen“ Leute in den Nationalsozialismus zu schreiben. Mayer machte zehn Menschen ausfindig, die er mehrfach besuchte und interviewte. Das Projekt kam über das Frankfurter Institut für Sozialforschung zustande; Mayer stand in Kontakt mit Max Horkheimer, Theodor Adorno und Friedrich Pollock. 1955 erschien „Sie hielten sich für frei“ in den USA. Das Buch zeigt, wie Normalbürger zu Nazis wurden.

„Mayer war in den USA als Sensationsjournalist unterwegs, schon als Student war er aufmüpfig und wurde der Universität verwiesen“, erläutert der Herausgeber und Übersetzer des Buches, der Marburger Kinderarzt und Kulturwissenschaftler Stephan Nolte, in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Doch Nolte beschreibt den US-Amerikaner auch als vielschichtige Persönlichkeit, „von einem tiefen Humanismus, Antimilitarismus und konsequenten Pazifismus geprägt“. Mayer versuchte, die Beweggründe seiner Gesprächspartner zu verstehen, die sie zu Mitläufern und auch Tätern des Nationalsozialismus machten. Im Buch nennt der Journalist seine zehn Interviewpartner „meine Freunde“. Dass er selbst Jude war, verschwieg er.

Die Gespräche fanden zu Hause bei den Gesprächspartnern statt. Manchmal brachte Mayer seine Kinder mit, oft boten ihm seine Gastgeber Kaffee oder Wein, sogar Mahlzeiten an. Da Mayer nicht gut Deutsch sprach, war meistens eine Dolmetscherin dabei.

Alle Interviewten waren Mitglieder von NS-Organisationen: zehn Männer, darunter ein ehemaliger Schneider, ein Soldat, ein Büroleiter der Parteizentrale, ein 14-jähriger Gymnasiast, ein Gymnasiallehrer, ein Polizist. „Diese zehn Männer waren keine besonders angesehenen Männer“, schreibt Mayer. Er bezeichnet sie als „kleine Nazis“.

„Das Bedrückende an dem Buch ist, dass es bei den Interviewten nach Kriegsende keine Einsicht in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes gab und dass eigene Einstellungen nicht revidiert wurden“, sagt Nolte. Für die zehn Gesprächspartner habe die große Katastrophe erst mit Kriegsbeginn begonnen, nicht mit der Machtergreifung. Der nationalsozialistische Terror habe sie kaum berührt.

Genau diese Haltung – das Verdrängen oder Nicht-wahr-haben-wollen der NS-Verbrechen – zeigt ein Gespräch mit dem Bäcker, das Mayer im Buch wiedergibt: „Als ich Herrn Wedekind, den Bäcker, fragte, warum er an den Nationalsozialismus geglaubt hatte, sagte er: ,Weil er versprach, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Und das tat er auch. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wohin das führen würde. Das konnte niemand‘. Ich dachte, ich hätte einen Volltreffer gelandet, und fragte nach: ,Was meinen Sie mit ‘wohin das führen würde’, Herr Wedekind?‘ – ,Krieg‘, sagte er. ,Niemand dachte je, dass es zu einem Krieg führen würde‘.“ Vier seiner zehn Nazifreunde hätten gesagt: Nur diejenigen Juden, die Verräter waren, seien ins Konzentrationslager gebracht worden, erfährt Mayer. Er attestiert den Deutschen Larmoyanz und Selbstmitleid, bis zur Selbstentschuldung.

Das Manko des Buchs sei, dass Personen- und Ortsnamen verschlüsselt sind, bedauert Nolte. Marburg heißt im Buch Kronenberg, alle Ortsbezeichnungen und erwähnte Personen erhielten Pseudonyme, um unkenntlich zu bleiben. Mittlerweile sind zwar alle Protagonisten gestorben, aber auch in der Übersetzung musste die Verschlüsselung beibehalten werden, wie Nolte berichtet, weil die Rechteinhaber mögliche juristische Konsequenzen fürchteten.

Nolte, der bis 2022 eine Kinderarztpraxis in Marburg hatte, fand im Ruhestand die Zeit, Mayers Buch zu übersetzen. Dass es bisher nicht passierte, kann er sich nicht erklären. „In den USA ist es noch heute ein verbreitetes Holocaust-Lehrmittel.“ Im Oktober erscheint „Sie hielten sich für frei“ im Marburger Büchner-Verlag.