Freiwillig ohne Obdach – für eine Woche
Alex wollte wissen, wie das Leben auf der Straße aussieht, eine Woche lang als Obdachloser. Zu seiner Überraschung war die Kälte nicht einmal das größte Problem.
Hamburg. Er schlief in der Kälte, aß in Suppenküchen und suchte das Gespräch mit anderen Obdachlosen. Mitten im kalten November lebte der 27-jährige Alex eine Woche lang als Obdachloser auf Hamburgs Straßen – stets in Begleitung seiner Kamera. Eindrücke seines Selbstversuchs hat er auf dem YouTube-Kanal "DivTV" veröffentlicht, den er zusammen mit drei Freunden betreibt. Seither sieht der Wirtschaftsjurist, der für eine Versicherung arbeitet, Obdachlose und auch sein eigenes Leben mit anderen Augen.
Die Idee kam dem Hamburger, als er Zelte von Obdachlosen unter der Kennedybrücke an der Alster sah. "Das Leben dort muss schon eine Herausforderung sein", schoss es ihm spontan durch den Kopf – ein Gedanke, der ihn nicht los ließ. "Wenn ich das tatsächlich nachempfinden möchte, dann muss ich mich selber mal in die Situation hineinversetzen", dachte er sich. Keine drei Monate später kaufte er Schlafsack und Rucksack, gab seine Wohnungsschlüssel vorübergehend ab und ging auf die Straße. Rund 2.000 Obdachlose gibt es laut Schätzungen in Hamburg, Tendenz steigend. Alex, der seinen vollen Namen aus Selbstschutz nicht öffentlich machen möchte, wurde einer von ihnen – zumindest für sieben Tage.
Vertrieben vom Supermarkt-Vordach
Für seinen ersten Tag hatte er sich bereits einen Plan zurecht gelegt: Er wollte auf die Suche nach einem warmen und trockenen Schlafplatz gehen. Fündig wurde er unter dem Vordach eines Supermarkts. Keine gute Idee, wie sich später herausstellen sollte: Schon am zweiten Tag wurde er vertrieben. Vor einer Schule ging es ihm am nächsten Tag ähnlich, so dass er den Rest der Woche in einem Park im Hamburger Osten übernachtete. "Das war das Komfortabelste."
Die Kälte habe ihm nur am ersten Tag zu schaffen gemacht. "Danach habe ich mich schnell an die Temperaturen gewöhnt." Die Nächte, in denen das Thermometer bis auf vier Grad runter ging, habe er dank seines Outdoor-Schlafsacks gut überstanden.
Viel mehr habe er mit der Langeweile gekämpft: "Man ist völlig planlos und weiß nicht, wo man hingehen soll. Das hat mich wahnsinnig gemacht", berichtet Alex.
Beeindruckt vom Zusammenhalt der Obdachlosen
Nach und nach knüpfte er Kontakte auf der Straße und hörte teilweise "krasse Geschichten". Beeindruckt habe ihn vor allem, "dass viele Menschen, die wenig haben, das Wenige miteinander teilen". Er habe miterlebt, wie ein Obdachloser von seinen drei Euro einem anderen abgab, der nur noch ein paar Cent hatte. Ein anderer habe ihm sogar ein Radler ausgegeben. "Ein solcher Zusammenhalt ist ein viel größerer Reichtum, als wenn ich viele Nullen auf meinem Konto habe", sagt Alex. Tief berührt habe ihn auch, als ihn nach einer Nacht im Park jemand ansprach, um ihm Obst und Hühnersuppe vorbeizubringen.
Allerdings erfuhr der Wahl-Obdachlose auch, dass es auf der Platte nicht nur harmonisch zugeht. Viele hätten beispielsweise von ihrer Abneigung gegenüber Unterkünften erzählt, weil dort Kriminalität herrsche: "Angeblich werden Spinde aufgebrochen und persönliche Gegenstände gestohlen. Da kann ich natürlich verstehen, dass manche lieber auf der Straße schlafen."
Taschengeld nicht gebraucht
Teils stieß der 27-Jährige auch auf Ablehnung, wenn er sich als Youtuber zu erkennen gab. Manche Obdachlose hätten ihn als Spion beschimpft, einige ihm sogar Gewalt angedroht. "Aber das waren Einzelfälle. Die große Mehrheit war sehr offen."
Sein selbst verordnetes Taschengeld von täglich 4,20 Euro hat der Hamburger übrigens meist gar nicht gebraucht. Er habe problemlos in sozialen Einrichtungen essen können. Am Ende der Woche weiß er daher: "Hungern muss niemand auf Hamburgs Straßen." Gelegentlich konnte er in den Unterkünften auch heiß duschen. "Selten habe ich mich so sehr darüber gefreut."
Was denkt Alex, wenn er nach seinem Experiment die Zelte an der Alster sieht? "Zum einen kann ich viele Dinge in meinem Leben jetzt viel mehr wertschätzen, zum Beispiel meine Arbeit", sagt er. Zum anderen fühle er sich den Obdachlosen nun verbunden, auch wenn er wisse, dass er nicht mal annähernd in der echten Situation eines Wohnungslosen gesteckt habe. "Ich konnte alles planen. Aber wenn Du wirklich auf der Straße landest, dann passiert das meist von heute auf morgen. Und dann stehst du da." (KNA)