Fließende Identitäten

Zeigen diese beiden Fotografien ein und denselben Menschen? Auf einem Bild ist ein Mädchen mit langem, lockigem, rot-braunem Haar und einer Goldkette um den Hals zu sehen. Das Gegenstück zeigt eine männlich wirkende Person im weißen Hemd mit kurzem, grauem Haar und strenger, dunkelrandiger Brille. Tatsächlich ist auf beiden Bildern Roni Horn zu sehen. In ihrer Fotoserie „a.k.a.“ (2008-2009) zeigt die Künstlerin ihre unterschiedlichen Gesichter im Laufe ihres Lebens – von verspielt mädchenhaft bis männlich.

Die Arbeiten der 1955 geborenen US-Künstlerin drehen sich um Fragen der Identität. Schon als Kind habe sie erkannt, dass gesellschaftliche Konventionen auf der Festlegung des Geschlechts beruhen, erklärt Horn. „Ich wusste, dass ich das nicht akzeptieren kann.“ Lange bevor Begriffe wie ‚genderqueer‘ oder ’nonbinär‘ in den öffentlichen Diskurs gelangten, habe Roni Horn bereits fluide Darstellungen von Gender untersucht, erklärt Museumsdirektor Yilmaz Dziewior, der die Ausstellung kuratierte. Horn verdeutliche in ihrem Werk, dass alles wandelbar sei und sich keiner festen Zuschreibung unterordnen lasse, „Das Widersprüchliche ist ein zentrales Thema in ihren Werken.“

Das drückt auch der Titel der am Samstag startenden Ausstellung aus. „Roni Horn. Give Me Paradox or Give Me Death” präsentiert bis zum 11. August rund 100 Fotografien, Zeichnungen, Künstlerbücher, Skulpturen und Installationen vom Frühwerk bis in die Gegenwart. Mit der Präsentation der Künstlerin sieht Dziewior sein Haus, dessen Sammlung einen Schwerpunkt auf US-Kunst hat, “am Puls der Zeit“.

Roni Horn ist eine der starken künstlerischen Positionen in den USA, die auch international Einzelausstellungen in renommierten Museen wie der Londoner Tate Modern, dem Pariser Centre Pompidou oder der Schweizer Fondation Beyeler hatte. Ihre Arbeiten befinden sich unter anderem in den Sammlungen des Guggenheim Museums und des Museums of Modern Art in New York sowie im Kunstmuseum Basel. 1992 nahm sie an der documenta IX teil.

Dziewior konnte sich nach eigenen Worten mehrere Tage im Atelier der New Yorker Künstlerin umsehen und stieß dabei auf bislang noch nie gezeigte Zeichnungen der späten 1970er Jahre: organische Formen aus fahrigen, dünnen Linien. Zu sehen ist auch eine Auswahl von Farbpigment-Zeichnungen mit abstrakten Motiven, die zwischen 1983 und 2018 entstanden. Sie bilden neben einer Reihe der bekanntesten Arbeiten der Künstlerin einen Schwerpunkt der Ausstellung. Wie in der Fotoserie „a.k.a“ zeigen auch viele Zeichnungen Paare. In diesem Fall sehr ähnliche Formen, die sich aber eben doch voneinander unterscheiden.

„Die Paarform verweigert sich durch die Bedingung, doppelt zu sein, aktiv der Möglichkeit, als Ding erfahren zu werden“, erklärt Horn. Die Künstlerin mache ihre Arbeiten damit schwer fassbar und entziehe sie einer eindeutigen Definition, sagt Dziewior. Identität ist bei Horn fließend.

So verwundert es nicht, dass die Eigenschaften von Wasser die Künstlerin faszinieren. Eine ihrer bekanntesten Arbeiten, die 15-teilige Fotoserie „Still Water (The River Thames, for Example)“ (1999) zeigt großformatige Aufnahmen des Wassers der Londoner Themse. Je nach Wetter verändert sich die Wasseroberfläche und die Farbe, sodass kein Bild dem anderen gleicht, obwohl das Motiv immer dasselbe bleibt. Kombiniert werden die Bilder mit Zitaten aus Literatur, Popsongs, Film, Gedichten und eigenen Texten zum Thema Wasser.

An Wasser erinnern auch die zehn runden, halbtransparenten Glasskulpturen mit dem Titel „The tiniest piece of mirror is always the whole mirror“ (2022). Auf der Oberfläche der Skulpturen spiegeln sich die ständigen Veränderungen in ihrer Umgebung. In der Ausstellung korrespondieren sie mit der 100-teiligen Fotoserie „Portrait of an Image (with Isabelle Huppert)“ (2005/2006). Dafür bat Horn die französische Schauspielerin Isabelle Huppert in einige ihrer früheren Rollen zu schlüpfen. Sie fotografierte die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke der Schauspielerin dann in 20 Sequenzen zu je fünf Fotos. Auch hier geht es darum, dass sich die Person durch den ständigen Rollenwechsel der Zuordnung und Festlegung entzieht.

Sprache hat in Horns Werk einen großen Stellenwert. Die US-Dichterin Emily Dickinson (1830-1886) ist für Horn eine Schlüsselfigur. Dickinson lebte zeit ihres Lebens völlig abgeschieden und entzog sich somit der gesellschaftlichen Festlegung. Für ihre Skulpturenserie „When Dickinson Shut Her Eyes“ (1993-2008) überführte Horn Dickinson-Gedichte ins Dreidimensionale. Jede Gedichtzeile ist in schwarzen Kunststoff gegossen und in einen Aluminium-Vierkantstab eingelassen.