Wie Hamburger Forschende das Prinzip Flaschenpost nutzten

Mit Liebesbriefen hatte das Experiment vor 160 Jahren nichts zu tun: Die Hamburger Seewarte ließ Tausende Flaschen ins Meer werfen, um Wasserströmungen zu erforschen – mit spätem Erfolg.

Bibliothekarin Martina Plettendorff zeigt eine alte Flaschenpost und das gelbe Modell der modernen Argo-Floats
Bibliothekarin Martina Plettendorff zeigt eine alte Flaschenpost und das gelbe Modell der modernen Argo-Floatsepd-bild / Evelyn Sander

Bei einer Flaschenpost denkt Bibliothekarin Martina Plettendorff nicht an See-Abenteuer, Hilferufe von Schiffbrüchigen und romantische Urlaubsgrüße, sondern an dicke schwere Bücher. In 5 Bänden stecken 662 historische Flaschenpostbriefe, die vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in einem Archiv in Hamburg verwahrt werden. „Es ist die größte wissenschaftliche Flaschenpost-Sammlung der Welt“, erklärt Bibliotheksleiterin Plettendorff. Initiator war Georg von Neumayer (1826-1909), Leiter und Gründer der Norddeutschen Seewarte. Vor 160 Jahren startete er sein globales Flaschenpost-Experiment.

Die ersten Flaschen ließ er 1864 von Handelsschiffen weltweit über Bord werfen, um Meeresströmungen zu erforschen. Meist waren es einfach leergetrunkene Flaschen der Seeleute. In ihnen steckte ein Zettel mit einer Anleitung, in der der Finder gebeten wurden, den Fundort an die Seewarte zu melden.

Flaschenpost in Weltmeere geworfen – tausendfach

Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden Tausende gut verschlossener Flaschen in die Weltmeere geworfen. „So ein geografisch umfassendes Experiment hatte es zuvor noch nie gegeben“, erklärt die Bibliothekarin und blättert in den alten Seiten. Die Zettel, die einst in Flaschen im Meer schwammen, stammen von 1864 bis 1933, manchmal ist die Schrift etwas verschwommen.

Fast hätte Neumayer sein Experiment für gescheitert erklärt. „In den ersten drei Jahren wurde nicht ein einziges Flaschenpost-Formular zurückgeschickt“, erzählt Plettendorff. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Flaschenpost irgendwo heil ankommt und gefunden wird, liegt nach Expertenmeinung im Durchschnitt bei acht bis zehn Prozent. Doch die Geduld des Seewarten-Chefs zahlte sich aus: Hunderte Flaschenpost-Briefe trudelten mit der Zeit in Hamburg ein.

Zufällig am Strand gefunden – das ist die klassische Vorstellung einer Flaschenpost
Zufällig am Strand gefunden – das ist die klassische Vorstellung einer FlaschenpostImago / Chromorange

Anhand der Rücksendungen konnten Forscher die Wege vieler Flaschen nachvollziehen – und anschließend auf Seekarten die Meeresströmungen einzeichnen. „Ziel des Experiments war es, die Strömungen besser zu verstehen und mit diesen Informationen die Seefahrt sicherer und schneller zu machen“, erklärt die 56-Jährige.

Die älteste Flaschenpost der Sammlung wurde am 14. Juli 1864 vom Schiff „Norfolk“ bei Kap Hoorn an der Südspitze Südamerikas über Bord geworfen, drei Jahre später fand sie jemand an der australischen Küste bei Portland.

Flaschenpost nach 131 Jahren gefunden

Das am längsten gereiste Dokument entdeckte eine Spaziergängerin am 21. Januar 2018 an der Küste von West-Australien: Die Flaschenpost war mehr als 131 Jahre alt. Im Jahr 1886 hatten Seeleute sie von Bord eines Hamburger Schiffes ins Meer geworfen. Es wird vielleicht nicht die letzte sein, hofft Plettendorff. „Es könnte irgendwann doch noch eine Flaschenpost von damals freigespült werden.“

Dabei haben in der Vergangenheit nicht nur Flaschen bei der Erforschung von Meeresströmungen geholfen. Plastikenten können das auch. 1992 gingen knapp 30.000 Badetiere im tropischen Pazifik bei einem Sturm über Bord eines Containerschiffes. Seitdem wurden sie an den Küsten des Pazifiks und Atlantiks gefunden. Zwei Drittel der Enten sind nach Süden getrieben und an den Küsten Australiens, Indonesiens und Südamerikas gefunden worden. Plettendorff: „Das restliche Drittel driftete nach Norden, durch die Beringstraße und mit dem Arktis-Eis in den Nordatlantik. Noch 15 Jahre später wurden die Badetiere an den Küsten Englands entdeckt.“ Sie verloren ihre Farbe, lieferten aber wertvolle Hinweise über die Strömungsverhältnisse.

So geht das moderne Flaschenpost-Prinzip

Auch heute noch wird das Flaschenpost-Prinzip für die Forschung genutzt: Anstelle von leergetrunkenen Gin-Flaschen der Seeleute treiben jedoch autonome, mit Technik vollgestopfte zwei Meter lange Bojen im Meer. Seit dem Jahr 2000 läuft das internationale Argo-Forschungsprojekt, an dem 30 Nationen und auch das BSH beteiligt sind. Fast 4.000 sogenannte Argo-Floats übermitteln Informationen zu Salzgehalt, Temperatur, Strömungen und Wasserdichte in verschiedenen Tiefen.

„Die Daten werden fast in Echtzeit übertragen und sind frei zugänglich“, sagt die Bibliothekarin. Genutzt werden sie in der Forschung, für Klima- und Wettervorhersagen. Weltweit liefern die Nachfolger der wissenschaftlichen Flaschenpost heute rund 144.000 Messprofile pro Jahr. Plettendorff: „Es ist ein einzigartiger Datenschatz.“ Nicht für bessere Handelsrouten wie damals, sondern um die Folgen des Klimawandels zu verstehen.