Flagge zeigen

Farbe bekennen – das wurde in Wiedenbrück in der Reformationszeit mit Hilfe von Hausinschriften bewerkstelligt

Schwarz-gelb, blau-weiß, blau-schwarz-weiß. Wo Flaggen mit diesen Farben aus Fenstern hängen, ist klar: Hier bekennt sich jemand zu seinem Verein. Borussia Dortmund, Schalke, Arminia Bielefeld – für echte Fußballfans ist das Flagge-Zeigen ein Muss; sei es aus Stolz oder manchmal auch aus Trotz.
Auch in der Reformationszeit gab es dieses „Flagge zeigen“ – zwar nicht auf bunten Tüchern, dafür aber mit holzgeschnitzten Inschriften über der eigenen Haustür. Wer zu welchem „Verein“ gehörte, protestantisch oder katholisch, ließ sich so auf den ersten Blick erkennen. Zum Beispiel in der Innenstadt von Wiedenbrück mit ihren außergewöhnlich gut erhaltenen Fachwerkhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
Hier finden sich aufwendige Schnitzereien mit Sätzen wie „Verbum dei manet in aeternum“, abgekürzt „VDMIE“, oder, auf Platt, „Gades Wort blift in Evifheit“; „Soli deo gloria“ (Allein Gott die Ehre) oder auch „So Got mit uns wol kann weder uns“ (Ist Gott mit uns, wer kann wider uns sein). „Das waren Schlachtrufe der Reformation“, erklärt Heimatpfleger Christoph Beilmann.
Um die wahre Brisanz der Inschriften zu verstehen, muss man einen Blick auf die wechselvolle Geschichte Wiedenbrücks werfen: Als der zuständige Bischof von Osnabrück im Jahr 1543 die Reformation einführte, erhielt er heftigen Gegenwind aus seinem eigenen Domkapitel. Also war bereits fünf Jahre später, 1548, von offizieller kirchlicher Seite aus schon wieder Schluss mit dem lutherischen Glauben – nicht jedoch bei den Einwohnern von Wiedenbrück. Die blieben der lutherischen Lehre treu, feierten das Abendmahl mit Brot und Wein, hatten verheiratete protestantische Prediger und gaben ihrer Überzeugung mit der Gestaltung ihrer Hausfassaden Ausdruck. Der Historiker Hermann Schaub bezeichnet die Inschriften als „Propaganda für den protestantischen Glauben“. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde Wiedenbrück wieder weitgehend katholisch.
Eine weitere Entwicklung, die ebenfalls mit Luthers Theologie zusammenhing, begünstigte die kunstvolle Gestaltung der Haussprüche: „Vor der Reformation investierten die Menschen in ihr Seelenheil, zum Beispiel mit einer Stiftung für die Ausstattung der Kirche“, erklärt der Wiedenbrücker Pfarrer Marco Beuermann. „Dann hat Luther klargemacht, dass man sich das Heil sowieso nicht erkaufen kann“ – und wohlhabende Bürger und Adlige fingen an, ihre gesellschaftliche Stellung unter anderem mit der Ausschmückung ihrer Hausfassaden zu präsentieren.
So kann man davon ausgehen, dass es bei den farbenfrohen, teilweise goldverzierten Schnitzereien nicht nur um ein Glaubensbekenntnis ging, sondern auch um die Darstellung durchaus weltlichen Reichtums.
Dabei ging es zum Teil sehr phantasievoll zu. In Wiedenbrück finden sich bunte Ornamente und Blumenranken, Drachen und andere Fabelwesen, Engel und biblische Motive wie die Verkündigung an Maria.
Die Bauweise der Fachwerkhäuser bot mit einem durchgehenden Querbalken auf der Giebelseite auch Platz für längere Bibelverse. So blieb es häufig nicht beim abgekürzten „VDMIE“. Gerne wählten die Hausbesitzer Zitate, die Gottvertrauen zum Ausdruck brachten oder zu einem gottgefälligen Leben aufriefen. Auch das Alte Testament war dabei sehr beliebt: Die Protestanten identifizierten sich mit dem auserwählten Volk Gottes, so der Historiker Schaub.

Lesen konnten die Schnitzer meistens nicht

Wie revolutionär dieses Verhalten war, wird erst deutlich, wenn man sich das absolute Monopol vergegenwärtigt, das die katholische Kirche zu Luthers Zeit für die Heilige Schrift beanspruchte. Kein theologischer Laie war befugt, Bibeltexte selbstständig zu deuten. Und hier wagten es nun einfache Bürger, sich diese Texte für ihre Zwecke anzueignen!
Dass dabei der eine oder andere Fehler unterlief, blieb nicht aus: „Viele Handwerker konnten gar nicht lesen und benutzten Schablonen, um die Inschriften anzubringen“, erzählt Pfarrer Marco Beuermann. Ein Ausrutscher wie „Wer wohl auf Gott vertraut, hat wohl gebaut“ ist sicher dadurch zu erklären.
Übrigens: In der Nachbarstadt Rheda, die bereits zum Herrschaftsgebiet des Fürstenhauses Bentheim-Tecklenburg gehörte, finden sich zwar Fachwerkhäuser aus der Zeit, aber keine aufwendigen Schnitzereien. Kein Wunder: Hier war man reformiert – nicht weniger überzeugt, aber insgesamt einfach nüchterner als im lutherischen Wiedenbrück.