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Fest-Expertin Bendix: Bedeutung gemeinsamer Feiertage schwindet

Eine Welle der Empörung brandete auf, als die evangelische Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann (CDU) aus Leer vorschlug, den Reformationstag abzuschaffen. Die Kirchen seien an diesem Tag leer, begründete die CDU-Politikerin ihren Vorschlag. Die Kulturanthropologin Regina Bendix von der Universität Göttingen, die zu Festen und Bräuchen geforscht hat, hält dagegen: Am Gottesdienstbesuch entscheide sich nicht, ob ein Feiertag seine Berechtigung hat. Warum sie sich trotzdem über die Einführung des Reformations-Feiertages gewundert hat, erläutert die Professorin im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Frau Professorin Bendix, ein Sprecher der Landeskirche Hannovers hat den Reformationstag folgendermaßen verteidigt: Er sei „ein wichtiger Anlass, gemeinsam über die Wurzeln und Werte der freiheitlichen Gesellschaft nachzudenken“. Können Sie dem folgen?

Regina Bendix: Es scheint mir etwas trocken formuliert. Beim Feiern geht es nicht in erster Linie ums Reflektieren, sondern darum, dass Menschen loslassen, mitgehen und sich und ihre Umwelt anders als im Alltag erfahren. Aber darin stimme ich zu: Wir sollten unsere Feiertage viel mehr für Feste nutzen, die das Gemeinwesen stärken. Feiertage sind ein Anlass, über das Selbst hinauszudenken und das größere Ganze, in dem man lebt, zu sehen und wertzuschätzen. Ob der Reformationstag diese Funktion erfüllen kann, dahinter würde ich ein großes Fragezeichen setzen.

epd: Weil die Kirchen am 31. Oktober voller sein könnten?

Bendix: Die Zahl der Kirchgänger allein ist kein Messgrad, ob ein religiös konnotierter Feiertag seine Berechtigung hat. Der Reformationstag krankt daran, dass er für die meisten Bürger nur ein willkommener freier Tag ist, den man individuell nutzt. Dieses Problem betrifft aber mehr oder weniger alle Feiertage, auch etwa den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober oder den 1. Mai als Tag der Arbeit. In unserer individualistischen Gesellschaft fällt es zunehmend schwer, diese Tage mit Bedeutungen zu füllen, die zu einem kollektiven Feiern einladen.

epd: Haben die Deutschen das Feiern verlernt?

Bendix: Nein, es gibt viele Feiern, die wir mit Energie und Bedeutung zu füllen vermögen, etwa das Dorfjubiläum oder eine Kirmes. Auffällig ist auch, dass Lebenslauf-Rituale immer wichtiger werden. Heute feiern viele ihren 30. oder 40. Geburtstag mit großem Aufwand. Das war früher eher unüblich. Junge Menschen gehen auf einen Rave oder zu einem Club, einfach um „zu feiern“ – also um dieses Gefühl des kollektiven Loslassens willen. Bei kalendarischen Anlässen, wie etwa Silvester in der Mittelstadt, spüre ich diese Energie kaum – viel mehr aber bei Protesten und großen Demonstrationen.

epd: Was haben Proteste mit Feiern zu tun?

Bendix: Proteste sind immer auch Formen der Feier. Das Instrumentarium, das wir dabei einsetzen, ist vergleichbar: Freudige oder erregte Vorbereitungsspannung, Umzug, Musik und Nutzung von ungewöhnlichen Materialien. Auch bei den No-Kings-Demos in den USA am 18. Oktober waren viele kostümierte Menschen zu sehen, die mit Begeisterung die Straßen friedlich eingenommen haben. Während Protesten verspüren die Teilnehmenden einen Gemeinschaftsgeist, der die Gefühle rund um ein Anliegen bündelt und Energie und Mut verleiht.

epd: Das Reformationsfest erinnert an einen Protest, der die Massen mobilisierte. Lässt sich daran nicht anknüpfen?

Bendix: Das könnte man meinen. Luthers Kampf gegen den Ablasshandel war auch ein Protest gegen die Gier der Mächtigen, die sich immer weiter bereichern – was uns heute ja auch beschäftigt. Aber wer weiß heute noch, worum es Luther ging? Auch wegen seines Antisemitismus ist er als Identifikationsfigur problematisch geworden. Der Reformationstag hat außerdem das Problem, dass er nicht unbedingt integrativ wirkt in einer Gesellschaft, die schon sehr lange heterogen ist.

Diese inhaltlichen Überlegungen waren aber ohnehin nicht entscheidend, als der Reformations-Feiertag in Niedersachsen und anderen nördlichen Bundesländern eingeführt wurde. Es ging darum, sich der Zahl der freien Tage in den süddeutschen Bundesländern anzunähern. In dieser Logik steckt auch, dass viele Menschen Freizeit eigentlich höher bewerten als Arbeit. Das finde ich traurig.

Der Reformationstag schien praktisch, weil er in den Herbst fällt. Diskutiert wurden außerdem der Frauentag am 8. März, der Europatag am 9. Mai oder der Tag des Grundgesetzes am 23. Mai. In dieser Zeit ballen sich die freien Tage aber schon. Ich hätte mir den Europatag gewünscht, weil er in die Zukunft weist und eine größere Identifikation mit Europa heute sehr wichtig wäre.

epd: Schon seit längerem bestimmt ein US-amerikanisches Gruselfest das Geschehen am 31. Oktober.

Bendix: Ja, dieser Tag wurde von Halloween – nach und nach seit der amerikanischen Besatzung in Deutschland – neu geprägt. Dabei handelt es sich dem Ursprung nach um ein katholisches Fest, nämlich All Hallows’ Eve, also den Vorabend von Allerheiligen und Allerseelen am 1. und 2. November. Entscheidend für die Ausbreitung von Halloween ist der Markt – der es ja schafft, viele Feste zu erhalten, indem er sie kommerzialisiert. Neuerdings funkt uns auch die mexikanische Variante dieser Feste hinein: Der Día de los Muertos (Tag der Toten) spielt in der Populärkultur auch in Deutschland eine immer größere Rolle. Und am 11. November folgt schon das Martinsfest, bei dem Kinder wie bei Halloween Süßigkeiten an Haustüren erbitten.

epd: Können Katholiken besser feiern?

Bendix: Ja, eindeutig. Zum Feiern gehören der ästhetische Bruch, die sinnliche Überwältigung, vor allem aber Freude. All das bietet eine katholische Messe. Wer katholisch ist, hat es in mancher Hinsicht leichter, Christ zu sein. Man kann beichten gehen und ist dann nicht mehr belastet. Das macht den Einzelnen kleiner, man wird kindlicher behandelt. Dagegen betont der Protestantismus das Erwachsensein, den mündigen Menschen, der Verantwortung übernimmt.

Man darf angesichts dieser Nüchternheit aber nicht vergessen, dass der Mensch ästhetische Unterbrechungen aller Art braucht. Wir sollten Feiertage daher nicht nur als arbeitsfreie Tage betrachten, sondern uns feiernd in Gemeinschaft begeben. Dafür braucht es nicht immer aufwändige Feste. Auch bei einem Spaziergang im Wald kann man mit einfachen Gesten zeigen, dass man die Mitbürger wahrnimmt. Dem Miteinander in unserem Land kann das nur guttun.