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Faszination des ganz Normalen

Ein Fest und ein Raum, in dem viele ein Zuhause finden. Vom Potenzial des evangelischen Gottesdienstes am Sonntagmorgen.

Von Alexander Deeg

Was haben ein Stück frisch gebackenes Brot, ein knackiger Apfel und ein evangelischer Gottesdienst am Sonntagmorgen gemeinsam? Sie sind nichts Besonderes, aber gerade deshalb faszinieren sie in ihrer Normalität, wenn man sie genau betrachtet und so neu wahrnimmt.Dafür plädiere ich, wenn es um den Gottesdienst am Sonntagmorgen geht: um liebevolle Wahrnehmung und sorgfältige Wertschätzung. Dann nämlich kann er ein Fest sein, das voller Erwartung gefeiert werden kann, und ein Raum, in dem viele ein Zuhause finden: Mühselige, Beladene und Glückliche, gestresste Pfarrerinnen und Pfarrer, Konfirmanden, Senioren, junge Familien und viele andere.Der „ganz normale“ Gottesdienst hat es gegenwärtig nicht leicht. Teilweise sitzt er auf der Anklagebank: „Du wirst nur noch von 2 bis 5 Prozent der Gemeinde besucht!“, hält man ihm vor (als wenn das in den vergangenen 200 Jahren jemals wesentlich anders gewesen wäre!). „Du kommst nicht mehr an!“, meint man – und gibt damit zugleich denen eine Ohrfeige, die ihn schätzen und lieben, vielleicht sogar brauchen und sich nach ihm sehnen. „Du bist ein Auslaufmodell!“, sagt man und ruft nach neuen Formen, bei denen die Zukunft des Gottesdienstes vermeintlich zu suchen sei. Ich bin nicht gegen neue Formen und nicht gegen Gottesdienste in „anderer“ Gestalt, meine aber entschieden, dass wir dem Gottesdienst in seiner traditionellen Form eine echte Chance geben sollten. Er ist das Standbein, von dem aus das Spielbein neuer und anderer Formen frei beweglich wird. Er verbindet uns nicht nur mit unserer Geschichte, sondern auch mit den anderen christlichen Gottesdienstfamilien. Er entlastet die Liturgin, den Kirchenmusiker, die Prädikantin (und all die anderen haupt- oder ehrenamtlich Aktiven) von einer immer weiter um sich greifenden „Wut des Gestaltens“, bei der wir meinen, als Planende und Inszenierende das Entscheidende machen zu können und machen zu müssen und uns so verantwortlich fühlen wie ein Showmaster für seine Show.

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