Experte: Traumatisierte Soldaten gefährden sich und Kameraden

Seit 257 Tagen führt Israel an mehreren Fronten Krieg. Ein Ende ist nicht in Sicht. Doch woher nimmt es seine Soldaten? Jetzt warnt ein Experte vor zu schnellen Folgeeinsätzen für traumatisierte Reservisten.

Israel fehlt es nach Worten von Trauma-Experte Jair Bar-Haim an langfristigen Lösungsansätzen für posttraumatische Belastungsstörungen. Im Kontext des anhaltenden Krieges könne dies dramatische Folgen haben, warnte der Leiter der landesweit größten Klinik für traumatischen Stress an der Universität Tel Aviv laut einer Pressemitteilung. Seine größte Sorge: der verfrühte Wiedereinzug von traumatisierten Reservisten, die dadurch eine Gefahr für sich selbst und ihre Kameraden darstellten.

“Personen, die bereits wegen posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) in Behandlung sind, sollten vom weiteren Militärdienst befreit werden – bis der therapeutische Prozess abgeschlossen ist und der Patient wieder psychisch stabil ist”, lautet Bar-Haims klare Forderung. Die Realität sehe hingegen anders aus.

Viele Reservisten mit PTBS würden schon vor Abschluss der therapeutischen Behandlung wieder eingezogen. Aus Pflichtgefühl gegenüber dem Land und den Kameraden kämen Patienten der Einberufung nach. Damit, so der Experte, riskierten sie aber ihre eigene psychische Gesundheit und, da sie womöglich nicht voll einsatzfähig seien, auch ihre Kameraden.

In Israel wie in der Ukraine sei durch die langwierigen Kriege eine in der Fachwelt bislang kaum diskutierte Situation eingetreten: “Betroffene kehren in den Kontext des Traumas zurück und gehen das Risiko ein, erneut traumatisiert zu werden.” Entsprechend müssten die bestehenden Therapien angepasst werden. Kurzfristig müsse das Bewusstsein für die Symptome von PTBS geschärft werden; langfristig brauche es eine bessere Therapeutenausbildung und starke regionale Kliniken.

Die Klinik in Tel Aviv erhält nach eigenen Angaben wöchentlich rund 40 neue Behandlungsanfragen von Soldaten und Zivilisten, die mehrheitlich vom Krieg betroffen seien. Die im Vergleich zu früheren Militäreinsätzen ungewöhnlich hohe Zahl deute auf eine große emotionale Belastung durch den Krieg hin, dessen Ende nicht absehbar sei. Anfang Juni hatte sich ein israelischer Reservist des Leben genommen, nachdem er einen zweiten Einberufungsbefehl erhalten hatte. Er war nach einem ersten Einsatz bei der Leichenbergung nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober sowie einem Einsatz im Gazastreifen mit PTBS diagnostiziert worden.

Seit Kriegsbeginn wurden laut Angaben des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) rund 300.000 Reservisten in Israel einberufen, teils mehrfach. Das Thema Wehr- und Reservedienst sorgte zuletzt wiederholt für Streit. Der israelischen Armee fehlen laut Berichten mehrere tausend Soldaten.

Im Juni hatte die Regierung ein umstrittenes Gesetzesvorhaben wieder aufgegriffen, das die Befreiung strengreligiös-jüdischer Männer vom Wehrdienst unterstützt. Gleichzeitig wurde die Erhöhung der Altersgrenze für die Reservepflicht für weitere drei Monate verlängert.