Experte: Schwindende Lebenschancen für Jugend im arabischen Raum

Keine Waschmaschine, kein Obst, kein Fleisch: In vielen Ländern sehen junge Menschen kaum Perspektiven für ihre Zukunft. “Einfach so” verließen sie ihre Heimat dennoch nicht, sagt der Leiter einer Studie zum Thema.

Jungen Menschen in Nordafrika und im Nahen Osten fehlen zunehmend Perspektiven: Davor warnt der Arabistik-Professor Jörg Gertel. “Wenn so viele Krisen zusammentreffen, unsichere Arbeitsplätze, bewaffnete Konflikte, Nahrungsunsicherheit und extreme Lebensunzufriedenheit, dann kann man das als eine Enteignung von Lebenschancen sehen”, sagte er im Interview der “Süddeutschen Zeitung” (Wochenende). So sei es “alarmierend, wenn zwei Drittel der jungen Erwachsenen angeben, dass sie nicht mehr dazu imstande sind, eine Waschmaschine zu kaufen, wenn Ersatz nötig ist”.

Gertel bezog sich auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, an der er federführend beteiligt war. Vor zehn Jahren sei es für Angehörige der oberen Mittelschicht in Tunesien etwa noch möglich gewesen, einmal im Jahr nach Frankreich zu reisen. “Das war eine typische Ambition”, erklärte er. Für den weitaus größten Teil der Bevölkerung brächen nicht Auslandsreisen weg, “sondern der sichere Zugang zu Nahrungsmitteln. Obst und Fleisch sind ein absoluter Luxus.”

Dennoch täten sich die meisten jungen Menschen in der Region schwer damit, ihre Familie und ihr Umfeld zu verlassen. “Sie ringen mit sich, bevor sie losziehen nach Europa. Denn sie wissen, wie schwierig eine Flucht dorthin ist.” Zugleich hätten 2016 noch 58 Prozent der Befragten angegeben, definitiv nicht auswandern zu wollen; heute sagten dies nur noch 45 Prozent. “Wenn man 16 oder 21 Jahre alt ist und im Leben etwas erreichen möchte, gleichzeitig im eigenen Land aber keine Perspektive erkennt, dann sind einige eher bereit, etwas zu riskieren”, so Gertel.

Der Glaube an Gott gebe vielen Befragten dennoch Zuversicht, fügte der Experte hinzu. Ebenso sei der Glaube an familiäre Werte sehr hoch. “Was besonders interessant ist: Für über 80 Prozent ist Religion eine Privatangelegenheit, in die man sich nicht einmischen soll.”