Experte: In Putins Russland gibt es kein Wahr oder Falsch mehr

„Putinismus“ als eine eigene Herrschaftsform – Aus Sicht des Russlandkenners Karl Schlögel lässt sich Putins Präsidentschaft nicht mehr mit früheren Diktaturen vergleichen. Auch Faschismus alleine greift da nicht mehr.

Die Russische Föderation unter der Herrschaft von Wladimir Putin lässt sich aus Sicht des Russlandkenners Karl Schlögel nicht mehr an bekannten politischen Maßstäben messen. „Es ist ein System entstanden, in dem es keine Unterscheidung von wahr und falsch mehr geben soll“, sagte der Historiker im Interview dem „Spiegel“ (Samstag). „Orthodoxe Kirche und die Errichtung von Stalindenkmälern, Parteitagschoreografien und Entertainment, die Verachtung des dekadenten Westens und der Besitz eines Apartments in Manhattan. Das geht alles zusammen.“

Der Historiker bezeichnet die aktuelle Herrschaftsform in Russland als „Putinismus“. Dieser ist laut Schlögel zwar auch eine Diktatur, unterscheidet sich in einigen Punkten aber entscheidend vom Faschismus in Italien oder dem Nationalsozialismus. Anders als diese sei der Putinismus etwa nicht aus einer Massenbewegung hervorgegangen. Zudem sei Putin nicht auf Massenunterdrückung angewiesen wie zur Zeit Stalins, „solange er Einzelne mit chirurgischen Operationen ausschalten und vernichten kann“. Zudem sei der Faschismus-Begriff inzwischen zu inflationär geworden. „Das absolut Böse in Gestalt der Herrschaft Putins erfasst er nicht“, so der Historiker.

Schlögel (76) zählt zu den bekanntesten Osteuropahistorikern Deutschlands. Er hat sich vor allem mit dem Stalinismus, der russischen Moderne sowie zuletzt auch mit der ukrainischen Geschichte beschäftigt.