Eva Wyss erforscht Briefe aus vier Jahrhunderten
An den Universitäten Koblenz und Darmstadt sind inzwischen mehr als 40.000 Briefe archiviert. Ihre Verfasser waren „normale“ Menschen, die sich am liebsten „Schatz“, „Hasi“ und „Liebling“ nennen.
Professorin Eva Wyss hat das Liebesbriefarchiv als Nachwuchsforscherin 1997 gegründet. An den Universitäten Koblenz und Darmstadt sind inzwischen mehr als 40.000 Briefe aus vier Jahrhundert archiviert. Ihre Verfasser waren keinen prominenten Schriftsteller, sondern Menschen wie du und ich. Welche Erkenntnisse sie aus der Erforschung dieser Briefe gewinnt, erklärt die Sprachwissenschaftlerin im Interview der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA).
KNA: Frau Wyss, haben Sie nach jahrelanger Beschäftigung nicht langsam genug von Liebesschwüren und Sehnsuchtsbekundungen?
Eva Wyss: Nein, ich finde immer wieder etwas, das ich interessant finde. Im Moment zum Beispiel die emotionalen Stimmungen, die die Briefe jeweils vermitteln. Die bekommt man vor allem mit, wenn man Briefe laut vorliest. Sie reichen von großer Traurigkeit, Frustration und Verzweiflung über eine kontrollierte Distanz bis hin zur locker-lustigen Beschwingtheit. Diese unterschiedlichen Schreibhaltungen sind noch wenig erforscht.
KNA: Was erforschen Sie noch?
Wyss: Die sprachlichen und inhaltlichen Ebenen der Briefe. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie sich Beziehungen angebahnt haben, wie sich die Sprache zwischen Männern und Frauen verändert und Geschlechterrollen entwickelt haben.
KNA: Können Sie ein konkretes Brief-Beispiel dafür nennen?
Wyss: Wir haben eine Korrespondenz aus den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, die ein sehr religiöses Paar geführt hat. Sie haben sich nicht nur darüber unterhalten, wie sie sich ihr künftiges gemeinsames Leben vorstellen, sondern auch dezidiert die Männer- und Frauenrolle diskutiert. Das ging vor allem von der Frau aus, die deutlich gemacht hat, dass sie als katholische Frau ihre eigene Identität bewahren möchte. Es waren richtiggehende Streitsequenzen, die wir analysieren konnten. Das stellt man sich bei einem Liebesbrief so nicht vor.
KNA: Wie unterscheiden sich Briefe von Männern und Frauen?
Wyss: Männer schreiben deutlich mehr Liebesbriefe; der Liebesbrief ist eigentlich ein Männergenre. Durch alle Milieus hindurch dürfen sie ihr Begehren ausdrücken und deutlich sagen, was sie sich wünschen. Sie thematisieren den weiblichen Körper, erinnern sich an vergangene Schäferstündchen – die Briefe sind nicht immer jugendfrei. (lacht) Die Frauen hingegen weisen diese Wünsche oft zurück, wenn sie nicht ungebunden und frei sind. Sie sind viel zurückhaltender und tragen große Sorge, ihr eigenes Image zu schützen und nicht zu viel Leidenschaft zu zeigen.
KNA: Was thematisieren Frauen stattdessen in ihren Briefen?
Wyss: Ihre eigene Gefühlslage oder wie sie sich über die Gefühle des Gegenübers freuen. Wir finden auch belehrende Narrative: Was etwa der Mann zu tun habe, wenn sie verreist ist.
KNA: Haben Sie schon herausgefunden, was die beliebtesten Kosenamen sind?
Wyss: Oh, das ist sehr langweilig. Schatz und Liebling, Hasi und Mausi. Was ich durchaus interessant finde, ist, dass der Kosename gern in der Anrede benutzt wird, der Absender seinen eigenen Kosenamen aber nicht in der Unterschrift nutzt. Der Kosename ist also nur dafür da, ihn in Zusammenhang mit einer anderen Person zu verwenden, nicht mit sich selbst.
KNA: Gibt es einen Brief, der Sie besonders beeindruckt hat?
Wyss: Es gibt einige Briefe, die ich toll finde. Sie kombinieren die visuelle und verbale Seite miteinander oder finden eigenwillige und originelle Formulierungen.
KNA: Schreiben eigentlich nur frisch Verliebte Liebesbriefe oder Menschen, die ihre Liebe geheim halten müssen?
Wyss: Als man noch schriftliche Briefe verschickte, waren sie zu Beginn der Beziehung in der Tat heftiger und leidenschaftlicher. Mit der Verfestigung der Beziehung hat man mit dem Briefeschreiben dann meistens aufgehört. Heute hat das Handschriftliche einen Sonderstatus bekommen. Man schreibt sich nur noch zu besonderen Gelegenheiten, zum Beispiel zum Jahrestag, Geburtstag oder Weihnachten.
KNA: Können Zettelchen und Chatnachrichten auch Liebesbriefe sein?
Wyss: Ja, unbedingt! Es gibt Paare, die schreiben andauernd, andere wiederum nur „Guten Morgen“ und „Gute Nacht“, wenn sie zum Beispiel in einer Fernbeziehung sind. Es kann durchaus aufschlussreich sein, sich darüber einmal im eigenen Freundeskreis auszutauschen.
Manche zelebrieren auch den traditionellen Liebesbrief. Ich habe vor rund zehn Jahren jemanden kennengelernt, der einmal im Jahr getrennten Urlaub mit seiner Frau machte. Sie haben sich in dieser Woche dann täglich Briefe geschrieben und den Liebesbrief als Ritual inszeniert.
KNA: Warum teilen Menschen mit Ihnen so intime, persönliche Briefe?
Wyss: Menschen gehen mit Liebesbriefen ganz unterschiedlich um. Auch unter Literaten gibt es welche, die ihre lieber vernichtet sahen, zum Beispiel Franz Kafka. Für manche ist es schwierig sich vorzustellen, dass Fremde diese Briefe lesen. Wenn es nötig ist, anonymisieren wir Forschende die Briefe, bevor wir sie der Öffentlichkeit zugänglich machen.
KNA: Haben Sie Tipps für diejenigen, die ihrem Liebsten oder ihrer Liebsten schreiben wollen?
Wyss: Man muss die Person, der man schreibt, einfach gut kennen und aus dieser Situation heraus schreiben. Man muss ihr zeigen, dass man sie wertschätzt, mag und dass es dafür keine Bedingungen gibt – eben dass man sie liebt, ohne Wenn und Aber.