Es sind die Menschen, nicht die Orte

Die Sowjetunion ist seine Heimat. Ein Land, das die jüdische Religion nicht gerade förderte. Inzwischen fühlt sich Landesrabbiner Yuriy Kadnykov in Deutschland beheimatet.

Landesrabbiner Yuriy Kadnykov sprach bei der pommerschen Emeriti-Rüste über Heimat.
Landesrabbiner Yuriy Kadnykov sprach bei der pommerschen Emeriti-Rüste über Heimat.epd

Weitenhagen. Am 9. Juli 2003 betrat Yuriy Kadnykov zum ersten Mal Deutschland. Nur drei Worte hatte er damals im Gepäck, erinnert er sich. Worte, die hängen geblieben waren von dem, was über Deutschland eben so aus Kriegszeiten erzählt wurde: „Hände hoch!“ und „Butterbrot“. Yuriy Kadnykov ist seit April 2015 Rabbiner des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in MV. Die pommerschen Pastoren im Ruhestand inklusive ihrer Partner waren neugierig auf den Nachfolger von William Wolff – und hatten Kadnykov nach Weitenhagen zur Emeriti-Rüste eingeladen.
Der Begriff Heimat stand im Fokus einer Vortrags- und Gesprächsrunde. Von der Heimat aus ging es drei Stunden lang munter durch verschiedene Themengebiete. Große und kleine Fragen gab es zu klären. Etwa, wo das biblische Grab Saras nun wirklich liegt – und ob Coca-Cola tatsächlich koscher ist … Doch zurück zur Heimat.

Was sagt der Begriff Heimat aus?

In Deutschland fühlt sich der Rabbiner inzwischen „beheimatet“, sagt er. Seit 2003 kamen zu den drei bekannten Wörtern so viele hinzu, dass er nun fließend und offenbar gern Deutsch spricht – versehen mit einem liebenswerten russischen Akzent. In Russland ist er aufgewachsen, eigentlich in der Sowjetunion, wie er sagt. Oder besser: der Ukraine? Yuriy wurde 1975, zu Sowjetzeiten, in Evpatoria auf der Krim geboren, bevor es von der Ukraine und dann russisch annektiert wurde. Dieser Wechsel zeigt schon, wie schwierig es ist mit dem Heimatbegriff. „Ich komme aus einem Land, das nicht mehr existiert“, sagt er. Einem Land, in dem es verboten war, über seine Religion zu sprechen. Sein Lehrer musste fünf Jahre ins Gefängnis, weil er Hebräisch lehrte. Mit dem „fünften Punkt“ im Pass, dem Kennzeichen für Juden im sowjetischen Ausweis, blieb einem viel verwehrt, sagt er. „Man vergisst das oft. Schlechte Sachen vertuscht unser Gehirn, die guten behält es.“

Ein Schicksal der Entwurzelung

Und so ist ihm auch die Sowjetunion Heimat. Nicht aber die Ukraine, deren Ausweis er besitzt, aber wo er nicht wählen geht, sondern hier, wo er lebt. „Heimatgefühl, das wächst mit den Menschen, die einen umgeben“, ist Kadnykov überzeugt. Verbundenheit mit Freunden, Genossen, der Gemeinde. Auch Kultur sei wichtig. „Man braucht ein Sicherheitsgefühl.“ Die Juden, die das Schicksal fortwährender Entwurzelung ja besonders treffe, waren immer gezwungen, Heimat nicht an den Ort zu hängen, an dem sie geboren sind. Mehr als Orte zählte die Sehnsucht nach Gottes Anwesenheit.

„Wenn man ein Haus baut, soll eine Ecke unfertig bleiben, um zu erinnern, dass auch die Welt nicht fertig ist – so wie der Tempel in Jerusalem, der zerstört wurde.“ Auch in Kadnykovs Heimatstadt war das religiöse jüdische Leben zerstört. Seit Mitte der 1990er-Jahre hatte er an dessen Wiederaufbau mitgearbeitet. Nach seiner Zeit in der ukrainischen Armee ging er zum Studium der Judäistik nach Moskau. Danach vertrat er den Rabbiner in Sewastopol. Ein amerikanisches Stipendium hätte ihn beinahe nach London geführt. Die Ereignisse um den 11. September vereitelten dies.

„Deutschland?“, hatten Freunde gefragt. „Guck mal, es gibt die USA oder Israel.“ „Die Beziehung meiner Familie zu Deutschland war sehr belastet.“ Doch er machte den Schritt und hat ihn nicht bereut. Er studierte in Potsdam und Jerusalem. 2011 in Bamberg zum Rabbiner ordiniert, sammelte er Erfahrungen in den jüdischen Gemeinden von Mönchengladbach, Magdeburg und Bad Pyrmont. 2015 wurde er Landesrabbiner in MV. Die Familie lebt in Berlin, seine Frau ist Erzieherin in einer staatlichen Kita. Wie alles unter einen Hut zu bringen ist, möchten die Emeriti wissen. „Sie kennen das ja“, sagt der Rabbi. „In unserer Branche sind Beruf und Privates nicht zu trennen.“

Es gibt ein Verbot, Menschen zu zählen

Wie die Jugendarbeit funktioniere, interessierte einige der alten Pastoren besonders. Er berichtete von der Sonntagsschule, die in Schwerin leider geschlossen werden musste, mangels Nachwuchs. Auch in Rostock und Wismar gehören nicht viele junge Menschen zur Gemeinde. Seine Gelassenheit rief Verwunderung hervor. „Bei uns gibt es ein Verbot, Menschen zu zählen. Es geht da mehr um Qualität als Quantität“, antwortet er ruhig. „Wir helfen denen, die da sind, zu leben.“ Jugendarbeit sei wichtig, ja. „Wir machen das auch, aber wir missionieren nicht. Man kann nicht erzwingen, was sie nicht haben.“

Kadnykov sieht die Familie in erster Linie als Basis. „Was Kinder essen, wie sie sich benehmen, welche Gebete sie sprechen – das ist Elternsache.“ Gemeinde kann unterstützen. „Aber wir haben überlebt, weil wir immer mehrere Möglichkeiten zugelassen haben.“ Auch im interreligiösen Dialog sieht er Akzeptanz als Grundbedingung. Muslime. Christen. Juden. „Sie gehen unterschiedliche Wege zum Schöpfer“, sagt er. Keiner ist kürzer, alle anders. „Man muss seinen Weg gehen, bis man ihn erreicht.“ Mischen geht nicht.