Er brachte die Angst ins Kino

Er brachte dem Publikum bei, den Atem anzuhalten. Dabei lehrte er es auch eine neue Vokabel: Suspense. Mit „Spannung“ ist das nur unzureichend übersetzt. Für Alfred Hitchcock (1899-1980) bedeutete Suspense das Gegenteil der Überraschung: Listig weihte er Zuschauerinnen und Zuschauer in die Bedrohlichkeit der Situationen ein, gab ihnen einen Informationsvorsprung gegenüber den Figuren, um die Kinoleinwand emotional aufzuladen und alles in einer angespannten Schwebe zu halten.

„Bei Hitchcock bangt man immer“, erklärt Regisseur Christian Petzold in Josefs Schnelles Interviewband „Der unsichtbare Dritte“. Seine Filme zogen und ziehen das Publikum weltweit in den Bann, weil ihre Sprache universell ist. Er war ein Meister der psychologischen Kameraführung: Die Spannung entsteht aus der Perspektive, zielstrebigen Kamerafahrten und dem Rhythmus der Montage. Vor 125 Jahren, am 13. August 1899, kam Hitchcock in East London als Sohn eines Gemüsehändlers zur Welt; er starb am 29. April 1980 in Los Angeles.

Viele unvergessliche Hitchcock-Szenen kommen praktisch ohne Dialoge aus: das Attentat in der Royal Albert Hall aus „Der Mann, der zu viel wusste“; der Flugzeugangriff im Maisfeld aus „Der unsichtbare Dritte“; die Versammlung der Krähen auf dem Klettergerüst aus „Die Vögel“; und selbstverständlich der Mord unter der Dusche aus „Psycho“, der eine ganze Generation dazu brachte, im Badezimmer erst einmal hinter dem Vorhang nachzuschauen. „Immer kommt die Gefahr aus der Umgebung“, erklärt Petzold.

Kein anderer Filmemacher verlieh der Angst im Kino solche Durchschlagskraft wie Hitchcock, der in den meisten seiner Streifen selbst kurz zu sehen war. Angst war ihm seit seiner Kindheit im Londoner Bezirk Leytonstone vertraut. Als er sechs war, schickte ihn sein Vater – wohl aus Willkür – mit einem Zettel zur Polizeiwache, wo er die Nacht in einer Zelle verbrachte. Das Motiv des unschuldig Verfolgten, der dennoch Schuld empfindet, sollte ihn später in seinen Filmen beschäftigen. Sie spiegeln persönliche Sehnsüchte und Obsessionen wider. Hitchcock wurde streng katholisch erzogen, er ging auf Klosterschulen und ein Jesuitengymasium.

Aus der sicheren Distanz des Regiestuhls stellte er sich eigenen Abgründen, die er geschickt maskierte. Am Filmset war er gleichzeitig bekannt für detaillierte Kontrolle und teils rücksichtslosen Umgang. Schauspielerin Tippi Hedren („Marnie“, „Die Vögel“) berichtete später auch von sexuellen Belästigungen.

Der gewiefte Publicity-Stratege mochte zwar nach außen zeitlebens das Image des vergnügten, rundlichen Biedermannes mit makabrem Sinn für Humor kultivieren. Aber insgeheim erzählen seine Filme von Entfremdung, Identitätsverlust und zerstörerischem Verlangen. In „Das Fenster zum Hof“ inszenierte er ein kleines Welttheater, das seine pessimistische Sicht der menschlichen Natur offenbart.

Hitchcocks visuelle Vorstellungskraft ging auf seine Anfänge im Stummfilm zurück, wo der gelernte Werbegrafiker als Gestalter von Zwischentiteln begann, bevor er 1925 das erste Mal selbst Regie führte.

Privat nahm sein Leben eine entscheidende Wendung durch die Begegnung mit Alma Reville, die er 1926 heiratete. „Sie war der wichtigste Mensch in seinem Leben“, erklärt Autor Thilo Wydra. Der Symbiose, die das Gespann bis zu Hitchcocks Tod 1980 aufrechterhielt, widmete er sein jüngstes Buch „Alma & Alfred Hitchcock“: „Die frühere Cutterin und Drehbuchautorin war an allen Filmen maßgeblich beteiligt. Sie nahm Stoffe an oder lehnte sie ab, sie entdeckte Schauspielerinnen mit ihm. Almas Wort galt.“

Hitchcocks dritte Regiearbeit „Der Mieter“, zugleich Thriller und atmosphärische Gesellschaftsstudie, wurde 1926 zu seiner Eintrittskarte in die Filmgeschichte. Drei Jahre später drehte er den ersten britischen Tonfilm „Erpressung“. Die Arbeiten seiner britischen Periode bestechen durch ihr gewitztes Tempo. In „Geheimagent“ genügen ihm sieben Minuten, um seinen Helden von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurück nach London und sodann in die Schweizer Alpen zu befördern.

In Hollywood feierte er gleich mit seinem US-Debüt „Rebecca“ 1940 einen Triumph. Während des Zweiten Weltkriegs drehte er glühende Anti-Nazifilme, 1945 fungierte er als Berater des Dokumentarfilms „Memory of the Camps“. Auch hier war sein visuelles Gespür bezwingend: Er fügte Landkarten in die Montage ein, die zeigen, wie gering die Entfernung der Konzentrationslager zu deutschen Städten war, deren Bewohner angeblich von nichts wussten.

Es gibt nichts Absichtsloses in seinen Filmen. Hitchcock, der als Kind begeistert Zugfahrpläne studierte, überließ nichts dem Zufall. Die einzelnen Einstellungen legte er präzise auf Storyboard-Zeichnungen fest. Was in einem Film missglückte, sollte im nächsten gelingen. Er experimentierte mit Farbe und Breitwand, drehte Filme an nur einem einzigen Schauplatz. Als einer der ersten Regisseure setzte er sich in „Ich kämpfe um dich“ mit der Psychoanalyse auseinander und kam in „Berüchtigt“ dem Geheimnis der Atombombe auf die Spur. Der Meister des Spannungskinos war auch ein wacher Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts.