Engel aus der Perspektive der Bibel

Die Begegnung mit einem Engel kann viele Gesichter haben. Das Alte Testament kennt verschiedene Typen von Gottes Boten, sie sind Gäste, Überbringer von guten Botschaften, aber auch Gegner.

Die Erzengel Michael (links), Raphael (Mitte)  und Gabriel (rechts) geleiten Tobias, Botticini, 1470
Die Erzengel Michael (links), Raphael (Mitte) und Gabriel (rechts) geleiten Tobias, Botticini, 1470wikimedia

Engel sind immer anders, als wir denken – diese Überschrift gilt für alle überirdischen Gestalten im Alten und Neuen Testament. Das beginnt schon bei der Bezeichnung: Einen allgemeinen Begriff wie „Engel“ kennt das Alte Testament nicht. Es gibt zwei Engelarten, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben.

Da ist der Bote Gottes (mal’ach jhwh), der einzelnen Menschen auf der Erde begegnet: Er kommt unerwartet, bringt eine überraschende Botschaft und verschwindet genauso unvermittelt wieder (1. Mose 16; Richter 6,11-24; 1. Könige 19,1-8; 4. Mose 22,21-35). Neben diesen menschlich wirkenden Boten gibt es eine andere Gruppe, Wesen mit ganz unterschiedlichen Namen (Cherubim, Serafim, …), die zum himm­lischen Machtbereich Gottes gehören.

Engel als Gäste

Die Begegnung mit einem Engel kann viele Gesichter haben. Ein menschlicher Gast kann sich im Nachhinein ebenso als Gottesbote erweisen wie ein überirdischer Überbringer einer guten Botschaft. Aber ein Gottesbote kann auch als Gegner auftreten und eine göttliche Grenze markieren. Alle drei Botentypen bieten Anknüpfungspunkte für moderne Engelvorstellungen und können ihnen als kritisches Gegenüber dienen.

Die Vorstellung des Gottesboten als Gast schreibt diesem kein überirdisches Wesen zu. Die göttlichen Gäste in der Bibel sind Menschen. Das hebt die Gegenseitigkeit der Beziehung hervor: Der Engel ist nicht nur ein hilfreicher Mensch, sondern als Gast wird er selbst mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beschenkt. Gastfreundschaft ist nicht berechnend, sondern bietet etwas Lebensförderliches für beide Seiten.

Die Erzählungen vom Gottes­boten als Gast werben für Gastfreundschaft. Diese Vorstellung wird auch im Neuen Testament wieder aufgenommen: ,,Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht – so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“ (Hebräer 13,2)

Das Fremde und Grenzüberschreitende scheint ein wichtiges Gegenüber für moderne Engelvorstellungen zu sein, die Engel oft allzu vertraut zeichnen. Als Gast bleibt der Gottesbote unverfügbar. Die Erzählungen halten fest, dass Menschen in ihren Häusern und auf ihren Wegen nicht allein bleiben, sondern besucht werden (Claus Westermann).

Engel als Überbringer guter Botschaften

Moderne Vorstellungen der Engel als lichtvolle, gütige Wesen haben ihr Vorbild in den ältesten biblischen Texten über den Boten Gottes. Er wird als „gut und weise“ charakterisiert (1. Samuel 29,9; 2. Samuel 14,20) und mit rettenden, heilvollen Begegnungen in Verbindung gebracht. Die Inhalte der guten Botschaften unterscheiden sich jedoch sehr von denen moderner Engel. Deren Domäne ist das Privatleben, es geht besonders um die Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen.

Gabriel verkündete Maria, dass sie einen Sohn bekommen würde
Gabriel verkündete Maria, dass sie einen Sohn bekommen würderawpixel

Dagegen reicht die gute Botschaft der biblischen Gottesboten immer über Einzelne hinaus: Gideon soll ganz Israel vor den Midianitern retten (Richter 6,14), Mose soll Israel aus Ägypten führen (2. Mose 3,3) und Hagar Mutter eines ganzen Volkes werden (1. Mose 21,18). Noch drastischer bringt Maria die welterschütternden Konsequenzen ihrer Begegnung mit Gabriel zur Sprache: ,,Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lukas 1,52)

Engel als Gegner

Der Engel als Gegner unterscheidet sich von den beiden anderen Typen. Diese Botenvorstellung stellt eine theologische Bearbeitung der Katastrophe des Babylonischen Exils im 6. Jahrhundert vor Christus dar, als Jerusalem zerstört und die Oberschicht nach Babylon deportiert wurde.

Nachexilische Theologen mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, wie das erfahrende Leid mit dem Gott Israels zusammenzudenken ist. Die Vorstellung des strafenden Gottesboten in 2. Samuel 24,16-17 und 1. Chronik 21 eröffnet einen Weg, die erlittene Katastrophe nicht mit Gott selbst gleichzusetzen. In der Figur des Boten kann Gott seinem eigenen Zorn gegenübertreten und sich auf seine Beziehung zu Israel besinnen. Die Erzählungen halten daran fest, dass der eine Gott die Welt in seiner Hand hält und verorten die erlebte Spannung in Gott selbst.

„Der Engel des Friedens“, Originaltitel: „The Angel of Peace“, 1901
„Der Engel des Friedens“, Originaltitel: „The Angel of Peace“, 1901Rawpixel

Bei aller Unterschiedlichkeit haben die drei Botentypen Gast, Überbringer einer guten Botschaft und Gegner manches gemeinsam:

  1. Die biblischen Gottesboten sind keine dauerhaften Begleiter, sondern treten in einzelnen Situationen auf und machen sich prägnant bemerkbar (vgl. 1. Könige 19,5). Sie erweisen sich als unverfügbar und sind auch nicht durch Übung zu entdecken. Das wird in 4. Mose 22,23-35 deutlich: Anders als seine Eselin sieht Bileam den Boten Gottes erst, nachdem Gott ihm die Augen geöffnet hat. Die Vorstellung vom Schutzengel entwickelt sich langsam: Der Exodusengel (2. Mose 23,20.23) begleitet das Volk auf den Weg vom Sinai bis ins Land Israel, und das Tobitbuch malt aus, wie der Engel Raphael sich mit Tobias auf eine gefährlichen Reise begibt (Tobit 3,17-12,20). Auch in der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Matthäus wird der gefährdete Weg der kleinen Familie durch Josefs Engelsträume begleitet (Matthäus 1,20-24; 2,13f.19-21).
  2. Die biblischen Gottesboten handeln überraschend. Sie kommen nicht zweimal mit derselben Botschaft, sondern verhalten sich der Situation und ihrem jeweiligen Gegenüber angemessen. Auch der Ort ihrer Erscheinung ist nicht festgelegt. Sie können überall auftauchen: unter Terebinthen (1. Mose 18,1; Richter 6,11), am Brunnen (1. Mose 16,7), in der Wüste (1. Könige 19,5), auf dem Feld (Richter 13,9; Lukas 2,8-14) – nur im Tempel ist der mal‘ak jhwh im Alten Testament nicht anzutreffe­n. Das gilt erst für den Gottesboten im Neuen Testament (Lukas 1,8-20)
  3. Unter den Möglichkeiten, mit denen Gott sich im Alten Testament seinem Volk verständlich macht, betonen die Botenerzählungen die persönliche Begegnung. Die Botschaft entsteht in der Interaktion zwischen dem Boten und seiner Adressatin. Das hat eine andere Erfahrungsqualität als eine von Mose übermittelte Gottesrede, eine Vision oder kultische Feier.

Die biblischen Engelerzählungen sind Zeugnisse einer Gottesbeziehung, die nicht über religiöse Institutionen oder Amtsträgerinnen und -träger vermittelt wird. Darin kommen sie modernen Engelvorstellungen nahe.

Michaela Geiger ist Professorin für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal