Einsamkeit nimmt zu – Massive Folgen nicht nur für Einzelne
Einsamkeit kann sich “scheußlich” anfühlen, so formulierte es der Dichter Erich Kästner vor fast 100 Jahren. Viele Betroffene schweigen allerdings eher. Chancen zum Gegensteuern sehen Fachleute auch im Digitalen.
Im digitalen Raum lässt sich der Einsamkeit von jungen Menschen etwas entgegensetzen – das beobachtet der Gründer von krisenchat.de, Kai Lanz. Neben der gezielten Beratung biete das Projekt auch Aufklärung und Information an, sagte er am Montag in Berlin. Derzeit steckten Soziale Netzwerk oder kommerzielle Anbieter die meisten Ressourcen in die digitale Lebenswelt – um so wichtiger sei es, dass auch zivilgesellschaftliche und staatliche Organisationen dort “stattfinden”.
Das Beratungsangebot für unter 25-Jährige, das während der Corona-Pandemie ins Leben gerufen wurde, musste laut Lanz bereits 25.000 Kinder und Jugendliche abweisen, weil es an Kapazitäten fehle. Dies zeige, “dass einzelne Projekte an einzelnen Punkten nicht ausreichen”. Neben Einsamkeit, die in etwa zehn Prozent der Chats ausdrücklich benannt werde, belasteten auch etwa Essstörungen, depressive Symptome und Suizidgedanken die Ratsuchenden – “ein negativer Blumenstrauß”, so Lanz.
Bei hohem Social-Media-Konsum stiegen auch die Raten von Suizidversuchen und Selbstverletzung, fügte der Experte hinzu. Die Psychologin Maike Luhmann forderte, die Risiken der Sozialen Medien nicht aus dem Blick zu verlieren. Junge Menschen vergäßen mitunter, dass man sich bei zehn Minuten Radweg auch persönlich treffen könne. “Chatten und Telefonieren sind besser als nichts – aber wir müssen den jungen Leuten wieder beibringen, dass es im wahren Leben noch schöner ist.”
Schon Vierjährige hätten eine Vorstellung von Einsamkeit – ohne den Begriff, “aber sie wissen, dass es sich doof anfühlt, wenn man ausgeschlossen wird.” Dies zeige, dass Einsamkeit eine “fundamentale Erfahrung sei”. Das Ziel könne nicht sein, diese Gefühle völlig zu vermeiden, betonte Luhmann: “Sie können auch dazu motivieren, auf andere zuzugehen.” Wenn Menschen jedoch über längere Zeit unter Einsamkeit litten, werde es schwierig, aus dieser Negativspirale wieder herauszukommen. Sie führe häufig zu einer verzerrten Wahrnehmung anderer Menschen.
Ein erster Schritt kann nach Worten der niederländischen Einsamkeitsforscherin Jolanda van Gerwe die Erkenntnis sein, dass es anderen ähnlich gehe. Auch Treffen in geschützten Räumen seien wichtig. “Manchen jungen Menschen fehlen ein Netzwerk und die Kompetenzen, eines aufzubauen.”
Die Fachleute äußerten sich zum Auftakt der Aktionswoche “Gemeinsam gegen Einsamkeit”. Einsamkeit nehme in allen Industriestaaten zu, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), die die Aktionswoche initiiert hat. “Menschen werden krank, Menschen werden verbittert, Menschen werden misstrauischer”, skizzierte sie mögliche Folgen. Betroffene müssten wissen, wo es Hilfe gebe.
Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer kann Einsamkeit zu psychischen Erkrankungen beitragen. Zugleich lasse sich vorbeugen, betonte Kammerpräsidentin Andrea Bennecke. “Aufmerksamkeit füreinander oder ein kurzes Gespräch mit Mitmenschen ist ein erster Schritt.”