Eine Visitenkarte wurde zum Verhängnis

Als nüchterner Hinweis hat die fünf Kinder der jüdischen Ärztin Lilli Jahn am 28. September 1944 eine schreckliche Nachricht erreicht. Das „Standesamt II Auschwitz“ teilte lakonisch mit, dass ihre Mutter bereits im Juni gestorben sei – ohne weitere Angaben.

Ein unscheinbares Türschild war Lilli Jahn zum Verhängnis geworden. Nach dem Umzug nach Kassel im Sommer 1943 nutzte sie wohl aus einer Unachtsamkeit heraus als Klingelschild eine ihrer alten Visitenkarten. Auf der stand noch der inzwischen für Juden verbotenen Doktor-Titel, allerdings nicht der Zusatzname „Sara“, wie er seit 1938 für alle jüdische Frauen vorgeschrieben war. Lilli wurde prompt denunziert, von der Gestapo verhört und am 30. August verhaftet.

Ihre vier Töchter standen auf dem Balkon und hielten vergeblich nach einem „blauen Kleid“ Ausschau, das ihre Mutter an diesem Tage trug. Für Lilli begann ein Leidensweg, der einige Monate später in der Todesmaschinerie von Auschwitz endete.

Die Machtergreifung der Nazis wurde zu einer brutalen Zäsur in dem bisher geregelten und erfolgreichen Leben von Lilli Jahn: Als Tochter eines jüdischen Fabrikanten 1900 in Köln geboren, wuchs Lilli zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Elsa behütet und unbeschwert in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach dem Abitur studierte sie Medizin und arbeitete 1924 als Ärztin in Kölner Arbeitervierteln.

Über die Medizin lernte Lilly den jungen Arzt Erich Jahn, einen Protestanten, kennen, im Dezember heirateten die beiden – ein Schritt, den Lillys Eltern mit deutlicher Skepsis sahen: Vor allem ihre Mutter habe sich „mit dem Gedanken dieser Mischehe durchaus nicht und nie befreunden können“, notiert Lilli.

Nach einer langen Suche konnte Ernst Jahn eine Praxis in der Kleinstadt Immenhausen bei Kassel übernehmen, in die auch seine Frau Lilli als praktische Ärztin einstieg. Als in schneller Folge die Kinder Gerhard, Ilse, Johanna, Eva und Dorothea geboren wurden, zog sich Lilli aus der Praxis zurück und führte den Haushalt.

Die idyllische Welt im Arzthaus beendet jedoch mit einem Schlag die Machtergreifung der Nazis 1933. Die Jahns werden konsequent ausgegrenzt: Der Gutsherr, ein eng befreundeter Arzt und auch der Pfarrer brechen von einem Tag auf den anderen jeden Kontakt ab, der „gesellschaftliche Boykott uns gegenüber war von einer ungeahnten Vollkommenheit“, schreibt Lilli.

Der Druck auf Lillis Ehemann Ernst, der ohnehin zu Depressionen und Melancholie neigt, wird offensichtlich so groß, dass er sich von seiner jüdischen Ehefrau trennt und die „arische“ Ärztin Rita heiratet. Eine Zeitlang wohnen Lilli und die Kinder mit Rita und Ernst in einer absonderlichen Wohngemeinschaft unter einem Dach. Lilli leistet sogar bei der Geburt der Tochter von Rita und Ernst Hebammendienste.

Die offizielle Scheidung, die Lilli jeden Schutz nimmt, ist der Anfang vom Ende: Auf Drängen des Immenhausener Nazi-Bürgermeisters, der seinen Ort „judenfrei“ haben will, ziehen Lilli und die Kinder nach Kassel. Dort gerät sie wegen des Vorfalls mit der Visitenkarte in die Fänge der Gestapo und kommt in das „Arbeitserziehungslager“ Breitenau bei Guxhagen (Schwalm-Eder-Kreis).

Die inhaftierten Menschen litten, wie Lilli berichtet, unter „unzureichender Ernährung und mangelhafter Nahrung, wir dürfen weder Mäntel noch Jacken noch Handschuhe tragen“. Als Ärztin stand Lilli Jahn ihren Leidensgenossinnen zur Seite und half als versierte Hebamme bei Geburten. Ein Lichtblick in der schlimmen Haft und dem täglichen zwölfstündigen Arbeitseinsatz in einem Pharma-Unternehmen waren für Lilli die „guten, liebevollen Briefe“ der Kinder, über die sie sich „immer so unsäglich“ freut.

Auch Lilli nimmt in ihren Briefen an die Kinder regen Anteil und rät in Haushaltsfragen, in welchem Schrank etwa die warme Winterkleidung zu finden ist. Es spricht für ihre menschliche Größe, dass sie niemals ein böses Wort über ihren Ex-Mann verliert, obwohl der nicht einmal auf ihre dringenden Bitten eingeht, ein Gesuch an die Gestapo für ihre Haftentlassung zu stellen.

Wenigstens konnte Tochter Ilse ein einziges kurzes Treffen im Gefängnis erwirken, über das sie später schreibt: „Wie verändert sah meine gepflegte Mutti aus. Sie trug ein Sackkleid aus grobem Stoff, Holzpantinen ohne Strümpfe, ein Schneidezahn fehlte“.

Im Frühjahr 1944 wurde Lilli ohne Vorankündigung in einen Zug nach Auschwitz gesteckt. Im September erhielten ihre Kinder dann die knappe bürokratische Anzeige ihres Todes.