Eine Möwe stürzt sich auf mich – und schnappt sich, ehe ich mich versehe, den Matjes von meinem Fischbrötchen. Nachdem meinen Kollegen Wölfe und ein wütender Papagei begegnet sind, komme ich an meinem Zielort Eckernförde glimpflich davon. Schließlich geschieht der Überfall vor den Augen einer großherzigen Imbissverkäuferin. Sie legt einen neuen Matjes in mein Brötchen und rät: „Passen Sie gut darauf auf!“
Es ist der Tag, an dem ich von Nikolai zu Nicolai fahre. Morgens um kurz nach neun stehe ich vor Kiels „Offener Kirche St. Nikolai“ am Alten Markt. Doch die „Offene Kirche“ ist noch geschlossen. Und so halte ich draußen vor der großen Holztür inne und hoffe, dass Nikolaus, Namensgeber zahlreicher Kirchen an den Küsten, da er als Patron der Seefahrt gilt, auch ein Patron der Radfahrt ist.
Muss der Weg immer schöner sein?
Rund 45 Kilometer liegen vor mir. Dass auf jeden Fall Petrus an meiner Seite ist, zeigt sich auf den ersten Hundert Metern an der Kiellinie. Der Himmel reißt über der Flaniermeile an der Förde auf. Sonne wärmt mein Gesicht. Vergnügt trete ich in die Pedale und denke an das „C“, das meine Ziel- von meiner Startkirche unterscheidet. Da ich selbst ein ungewöhnliches „C“ im Vornamen trage, fühle ich mich mit ihr verbunden.
Gedanken über Schreibweisen sind längst verflogen, als ich auf dem Fahrradweg vor Altenholz, direkt neben der Bundesstraße, unterwegs bin. Die Autos sind jetzt laut und schnell. „Bloß weg hier“, denke ich – und bedaure es, meine Strecke nicht besser geplant zu haben. Aber muss es wirklich grüner, leiser, verlassener sein? Das Gefühl, dass es immer etwas gibt, was besser ist, kann nagen. Also akzeptiere ich meinen Weg, fahre schneller, ignoriere den Lärm.
Am Straßenrand liegt ein totes Reh
Eine Weinbergschnecke am Wegesrand ist es, die mich daran erinnert, dass es noch langsamer geht – und dass Lebensräume begrenzt sind. Da sehe ich, kurz vor Schilksee, eine Baustelle. Ist etwa der Fahrradweg gesperrt? Empörung steigt in mir auf. Ich blicke auf die viel befahrene Straße neben mir, sehe mich schon mitten im Verkehr. Bis ich erkenne, dass die Zufahrt zu der Seitenstraße für Autos gesperrt ist – nicht jedoch der Radweg. Ich fühle mich ertappt. Wie oft befürchtete ich schon ein Problem, das sich bei näherer Betrachtung in Luft auflöste?
„Moin“, grüßt mich ein entgegenkommender Radfahrer. Ein totes Reh liegt am Straßenrand. Links das leicht hügelige Land, rechts schimmert in der Ferne grau die Ostsee. Wo das Land ist, türmen sich Wolken auf, der Himmel färbt sich dort bedenklich dunkel. Über dem Meer leuchtet er blau. Regen. Noch mehr Regen. Wind. Noch mehr Wind. „Moin!“

Die Dreifaltigkeitskirche von Krusendorf ist geöffnet. Eine Wasserflasche und ein Glas stehen auf einem Tisch neben dem Eingang bereit. Ich bin willkommen, denke ich, blicke ins Rundgewölbe der Backsteinkirche. Draußen liefern sich Sonne, Wolken und Regen ein Duell und stellen mich immer wieder vor dieselbe Frage: Sollte ich meine Regenjacke anziehen?
Die Sonne lässt die Blätter funkeln
Ich folge weiter der „Bäderstraße“. Immer wieder könnte ich rechts abbiegen und wäre innerhalb weniger Minuten an der Ostsee. Freiheit, das ist auch ein Konjunktiv. Eine Möglichkeit.
Honig, Marmelade, Kartoffeln, Kirschen werden am Wegesrand angeboten. Ein Schild wirbt für „Whiskey und Korn“. Wenige Meter entfernt steht ein steinernes Kreuz für die Opfer des Ersten Weltkrieges.
Kurz vor Eckernförde führt mein Weg durch ein Waldgebiet. Ich rolle über die Asphaltstraße und beobachte das Sonnenlicht, das das dichte grüne Laub durchdringt. Strahlen lassen Blätter funkeln und tanzen. Dabei regnet es doch.
12.20 Uhr, ich stehe vor der Tür der St.-Nicolai-Kirche. Sie wird in zwei Stunden geöffnet sein, entnehme ich einem Schild. Der Kreis schließt sich, der Eintritt zur Nicolaikirche bleibt mir ebenso verwehrt wie der morgens zur Nikolaikirche. Immerhin: Ihr Namensgeber hat auf mich geachtet. Mehr noch: mich reich beschenkt.
