Eine neue, weibliche Sicht auf die Werke des „Blauen Reiter“

Seit 2010 leitet die Kunsthistorikerin Cathrin Klingsöhr-Leroy das Franz-Marc-Museum im oberbayerischen Kochel am See. Zum Abschied wagt sie mit drei weiteren Kuratorinnen einen frischen Blick auf die Sammlung.

Alle Welt liebt die Bilder des „Blauen Reiter“ und der „Brücke“-Künstler – wegen ihrer Farbenpracht und der Fülle ihrer Formen und Motive. Die Werke spiegeln Emotionen wider und sind scheinbar ganz spontan gemalt. Doch wer sie nur als heitere „unproblematische“ Malerei wahrnimmt, verstellt sich den Blick auf ihren Ursprung.

Dieser war einst verbunden mit grundsätzlicher Gesellschaftskritik und Reformideen. Der expressionistischen Malerei ging es um das Aufbrechen von Hierarchien und Traditionen sowie um ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Der Wunsch nach einer natürlichen Lebensweise wurde laut – in einer Welt, wo zunehmend Industrie und Technik dominierten.

„Wie also die so vertraut wirkende, farbenfrohe Oberfläche solcher Bilder durchdringen und neue Aspekte in ihnen entdecken, die bisher verborgen blieben?“, heißt es im Katalog-Vorwort. Eine Antwort darauf versucht die Ausstellung „Mit anderen Augen“, die vom 24. März bis 30. Juni im Franz-Marc-Museum im oberbayerischen Kochel zu sehen ist. Sie ist zugleich das Abschiedsgeschenk der bisherigen Direktorin des Museums, Cathrin Klingsöhr-Leroy, die nach 15 Jahren im Mai ihr Amt aufgibt.

Für ihr Vorhaben hat sie drei Frauen als Mit-Kuratorinnen gewonnen, die die alten Bilder und Skulpturen aus der Perspektive ihrer jeweiligen wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit betrachten. So sind vier in sich geschlossene thematische Räume entstanden, die in die ständige Sammlungs-Präsentation integriert sind.

Karin Kneffel (Jahrgang 1957), bis 2023 Professorin an der Münchner Kunstakademie, setzt sich mit dem Thema „Mutter und Kind“ auseinander. Die Malerin stellt die Frage, wie sich diese Darstellung im Laufe der Jahrhunderte verändert hat und welche Vorstellungen und Rollenbilder damit transportiert werden. Ausgangspunkt sind vier von ihr täuschend echt (fast fotografisch genau) gemalte Bilder von Madonnen- und Jesuskind-Köpfen spätgotischer Skulpturen. Kombiniert werden diese mit Mutter-Kind-Darstellungen von Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker, Franz Marc, Otto Mueller und Wilhelm Lehmbruck.

Die Münchner Literaturwissenschaftlerin, Geschlechter- und Modeforscherin Barbara Vinken beschäftigt sich damit, wie sehr Frauen und Männer von ihrer Kleidung definiert werden: ausgehend von den märchenhaften Aquarellen der Dichterin Else Lasker-Schüler, die sich in orientalischen Gewändern als androgyner „Prinz Jussuf“ präsentiert, über den uniformierenden dunklen Anzug der Männer, der sie seit der Französischen Revolution einheitlich und machtbewusst kleidet. Aber auch die Tänzerinnen und Akrobatinnen in den Bildern von Ernst-Ludwig Kirchner, Alexej von Jawlensky und Otto Dix haben ihren Platz.

Unter dem Stichwort „Seelenwanderung“ zeigt die Kunsthistorikerin Julia Voss Werke von Künstlern, die von der Kraft des Geistigen in der Kunst überzeugt waren und davon, dass Kunst die Seele berührt und sie in Schwingung versetzt. Dabei stellt sie Aquarelle der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint einigen Werken von Wassily Kandinsky gegenüber. In dessen berühmtem Text „Über das Geistige in der Kunst“ ist zu lesen: „Im allgemeinen ist … die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluss auf die Seele auszuüben.“ Das galt für ihn besonders für die ungegenständliche Malerei, als deren Erfinder er gilt.

Den letzten Ausstellungsraum im zweiten Stock bespielt Klingsöhr-Leroy selbst unter dem Motto „Haben Pflanzen eine Seele?“. In Zeiten der Klimakrise und der Sehnsucht nach einer heilen Natur erscheint die Frage nicht mehr absurd und ist inzwischen Teil der Weltsicht geworden.

Im Zentrum steht eine Arbeit von Wolfgang Laib, ein kleiner, zylindrischer Berg aus Haselnusspollen, im Dialog mit einem Gemälde von Paul Klee, „Wachstum der Nachtpflanzen“ (1922). Diese zwei Werke sowie die kalligrafischen Baumstudien von Leiko Ikemura, Zeichnungen von Joseph Beuys, die Naturnotizen des Schriftstellers Peter Handke oder die plastischen Naturkeramiken von Anna Moll zeugen von einem „anderen“ Blick auf die Pflanzen und ihre besondere Aura.