Kranke Eltern: Eine Kindheit in Rufbereitschaft

In Deutschland helfen geschätzt rund eine halbe Million Kinder und Jugendliche bei der Pflege von kranken oder behinderten Familienangehörigen. Nur selten wird ihre Belastung wahrgenommen.

Kinder kranker Eltern müssen häufig früh Verantwortng übernehmen (Symbolbild)
Kinder kranker Eltern müssen häufig früh Verantwortng übernehmen (Symbolbild)Imago / Pond5 Images

Wenn Luisa aus der Schule kam, dann standen nicht nur Hausaufgaben auf dem Plan. Tägliche Hausarbeit wie Einkaufen, Waschen, Bügeln oder Kochen gehörte zu ihrer Kindheit wie selbstverständlich dazu. Bereits vor Luisas Geburt war bei ihrer Mutter Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden. Sie wuchs mit der Allgegenwärtigkeit der chronischen und fortschreitenden Erkrankung auf. Während der Vater arbeitete, half Luisa ihrer Mutter, irgendwann musste sie sie auch bei der Körperhygiene unterstützen.

„Ich habe schon gemerkt, dass ich anders als andere Kinder bin, aber ich war mir damals der emotionalen und körperlichen Belastung nicht bewusst“, sagt die heute 27-Jährige. So wie Luisa, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht haben möchte, geht es in Deutschland schätzungsweise einer halben Million Kinder zwischen zehn und 19 Jahren. Das sind durchschnittlich ein bis zwei Kinder pro Schulklasse. Sie leben mit einem kranken oder behinderten Familienmitglied und sind in die tägliche Pflege und Betreuung eingebunden.

Es fehlt an emotionaler Unterstützung

In der Umgebung fehlt es oft an Bewusstsein für das Thema, wie Luisa erzählt: „Im Gymnasium hatte ich auch schon einmal einen emotionalen Zusammenbruch, aber dann wurde ich mit einer Freundin vor die Tür geschickt.“ Sie sagt: „Ich hätte mir emotionale Unterstützung gewünscht.“ Doch ein Gespräch mit Lehrern zu den Ursachen habe es nie gegeben.

Mara Rick arbeitet bei der Beratungsstelle „echt unersetzlich“, die beim Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte angesiedelt ist, und kennt die Lage von jungen Pflegenden wie Luisa: „Wenn Schülerinnen und Schüler beispielsweise einen plötzlichen Leistungsabfall haben oder nur noch müde sind, dann wird das ab einem gewissen Alter auf die Pubertät oder auf Videospiele geschoben“, sagt sie und betont: „Elementar ist, die Belastung der Jugendlichen wahrzunehmen, auch wenn es sich um vermeintlich kleine Haushaltshilfen handelt.“

Mara Rick von der Berliner Beratungsstelle "echt unersetzlich"
Mara Rick von der Berliner Beratungsstelle "echt unersetzlich"epd-bild / Martin Kirchner

Es sei wichtig, dass Nachbarn, Freunde oder der erweiterte Familienkreis zuhörten und nicht urteilten. Fragen wie „Wie geht es dir damit, dass du deine Hobbys immer wieder ausfallen lassen musst?“ könnten einen Austausch anregen.

„Young Carers“, junge Pflegende, werden oft nur nach dem Befinden des erkrankten Familienmitglieds gefragt, nicht nach ihrem eigenen. „Viele wissen gar nicht, was sie genau brauchen“, erklärt Sozialarbeiterin Rick. Die Mitarbeitenden von „echt unersetzlich“ unterstützten sie individuell, beispielsweise bei schulischen Problemen oder finanziellen Fragen.

Initiative für pflegende Kinder

Seit 2018 gibt es auch eine bundesweite Initiative des Bundesfamilienministeriums, die sich an pflegende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen sowie Fachkräfte richtet. Auf der Homepage „Pausentaste“ finden sich Verlinkungen zu lokalen Projekten.

Solche Angebote existierten noch nicht, als die heute 42 Jahre alte Julika Stich sich um ihre an MS erkrankten Mutter kümmerte. Bereits mit sieben Jahren hatte sie eine hohe Verantwortung, wie sie sich erinnert: „Ich musste beispielsweise aufpassen, dass sie beim Wechsel ihrer Rollstühle nicht fällt.“ Nachts rief die Mutter nach ihr, wenn sie Hilfe brauchte.

„Ich war als Kind immer in Rufbereitschaft“, erinnert sie sich. Einmal habe sich ein Mitschüler einen Scherz erlaubt und gesagt, er habe den Rollstuhl nicht mehr vor der Haustür gesehen. „Ich kann mich noch heute an die Angst erinnern und wie schnell ich vom Schulweg nach Hause gerannt bin.“ Verständnis habe es aus ihrem Umfeld kaum gegeben. „Das kann doch die Julika machen“, das habe sie oft gehört.

Erst nachdem sie ausgezogen und die Mutter im Pflegeheim war, begann sie, sich mit ihrer Situation zu befassen. „Ich habe im Internet recherchiert und bin auf den Begriff ‘Young Carer’ gestoßen, der aus Großbritannien stammt. Das war wie ein Befreiungsschlag, zu wissen, dass ich nicht alleine bin!“

Young Carer müssen schnell erwachsen werden

Die letzte größere repräsentative deutsche Studie zu dem Thema stammt aus dem Jahr 2017 von Forschenden der Universität Witten/Herdecke. Am häufigsten halfen betroffene Schüler demnach im Haushalt, der Mobilisation oder dem An- und Ausziehen des Familienmitglieds. Jeder vierte Young Carer gab an, auch bei der Körper- und Intimpflege zu unterstützen.

Um für das Thema zu sensibilisieren, gründete Julika Stich 2016 die Initiative „Young Helping Hands“. 2023 erschien ihr Kinderbuch „Tom passt auf Papa auf“. Sie arbeitet damit auch ihre eigene Geschichte auf. „Durch die Pflege habe ich viele Fähigkeiten, aber auch immer noch sehr viel nachzuholen. Früh musste ich erwachsen werden und lerne nun Dinge zu tun, die ich immer schon mal machen wollte“, resümiert sie auf ihrer Homepage.

Ähnlich erging es Luisa, als sie mit 18 Jahren von zu Hause auszog. „Spontanität ist mir sehr schwergefallen. Jahrelang musste ich jeden Schritt vorher absprechen.“ Rückblickend habe sie die Erfahrung auch bereichert: „Es hat mich zu einem sehr empathischen und sozialen Menschen gemacht.“ Inzwischen macht Luisa eine Ausbildung zur Pflegefachfrau.

„Die Arbeit mit den Menschen macht mich einfach glücklich“, sagt sie. Dabei hat sie jetzt aber auch ihre eigene Gesundheit im Blick: „Ich habe gelernt, dass ich nur eine Stütze sein kann, wenn es mir gut geht. Jeder braucht Auszeiten für seine Gesundheit.“