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Eine Fliesenbibel für Lissabon

Früher sprach sie in der ARD das Wort zum Sonntag, nun leitet Nora Steen zusammen mit ihrem Mann Leif Mennrich die evangelische Kirchengemeinde von Lissabon. Und stellt dabei fest, dass die religiösen Uhren hier anders ticken

Eine Oase mitten in Lissabon. So beschreibt sich die evangelische Kirchengemeinde selbst in ihrem Flyer. Sie liegt zwischen Wohn- und Geschäftshäusern. Im Garten des mit einer gelben Mauer umzäunten Grundstücks blühen Bougainvillea-Bäume in einem kräftigen Lila. Die Idylle lässt einen fast vergessen, dass man sich im Zentrum einer europäischen Hauptstadt befindet. Bis zu dem Moment, in dem aus dem Nichts plötzlich ein Airbus mit ohrenbetäubendem Lärm so dicht über den Kirchturm hinwegfliegt, dass man sich instinktiv ducken möchte, um nicht vom Fahrwerk gestreift zu werden. „Daran mussten wir uns am Anfang auch erst mal gewöhnen“, gesteht Pfarrerin Nora Steen, die hier gemeinsam mit ihrem Ehemann die Gemeinde leitet. „Wir wohnen direkt in der Einflugschneise.“ Besonders ihre beiden kleinen Töchter hatten anfangs Probleme damit.
2015 entschloss sich das Pastorenpaar, für die nächsten sechs Jahre ins Ausland zu gehen. Dass ihre Wahl auf Lissabon fiel, war dabei eher Zufall. „Da wir beide den Süden und den Atlantik mögen, war die Entscheidung schnell gefallen.“ Bis dahin waren sie noch nie in Portugal gewesen und konnten auch die Sprache nicht, insofern war dieser Umzug für die beiden ein Sprung ins kalte Wasser.
Fast zwei Jahre ist das nun her. Inzwischen beherrschen sie die Landessprache ihrer Wahlheimat, die Gottesdienste halten sie aber weiterhin auf Deutsch. „Weil unsere Besucher mit der Sprache einfach ein Stück Heimat verbinden“, sagt Nora Steen. Portugiesisch braucht sie daher meist nur für besondere Gottesdienste wie Taufen und Eheschließungen. Oder Beerdigungen.
Ältere Menschen, die schon lange hier leben, erzählt die Pastorin, bleiben oft nicht bis an ihr Lebensende in der Fremde. „Wenn der eine Partner stirbt, stellt sich für den anderen oft mit über 70 oder 80 Jahren die Frage: Gehe ich nach Deutschland zurück oder bleibe ich hier?“ Gerade letzte Woche hat sie eine alte Dame verabschiedet, die zurückgeht. „Es fiel ihr schwer, es war eine Vernunft- und keine Herzensentscheidung.“ Denn das portugiesische Sozialsystem und die Pflege seien vom Standard her niedriger.
Nora Steen beobachtet noch einen anderen Trend: Während die einen zurückgehen, um sozial abgesichert zu sein, kommen andere dafür aus ganz neuen Beweggründen nach Lissabon: „Sie  fühlen sich aufgrund der Terrorgefahr in Deutschland nicht mehr frei und sicher. Sie kommen zu uns. Vermutlich, weil sie gemerkt haben, dass dieses Thema bislang in Portugal keine Rolle spielt. Dafür ist das Land politisch und wirtschaftlich zu uninteressant.“

Portugal ist bislang von Terroranschlägen verschont

Sie selbst hat ihre Entscheidung, ins Ausland zu gehen, bislang noch keinen Tag bereut. Damit ihre Kinder den Kontakt zur Heimat nicht verlieren, reist sie mit ihnen regelmäßig nach Deutschland. Beim letzten Besuch habe sich ihre Tochter darüber gefreut, ein leuchtendes, blühendes Rapsfeld zu sehen. Denn das gebe es in Portugal nun mal nicht.
Bevor sie von Hannover wegging, sprach die Pastorin sechs Mal jährlich in der ARD das „Wort zum Sonntag“. Das sei eine tolle Chance gewesen. „Wer bekommt schon die Möglichkeit, fünf Minuten am Stück zu sprechen und so in jedes deutsche Wohnzimmer zu gelangen?“
Auf der anderen Seite schätzt sie den persönlichen Kontakt im Gottesdienst. Zwar mit einer kleineren Reichweite, aber dafür kennt sie viele ihrer Zuhörer persönlich, kann sich Auge in Auge mit ihnen austauschen. „Ich sehe, wie sie reagieren. Das geht beim Fernsehen ja nicht.“ Obwohl ihre Kirche nicht direkt im Stadtzentrum liegt, kommen immer mehr Touristen zum sonntäglichen Gottesdienst vorbei, sagt die 40-Jährige. „Manchmal sind es sogar ganze Reisegruppen, die mit dem Bus anreisen. Das zeigt mir: Egal, ob für Gemeindemitglieder oder Touristen: Ich werde hier gebraucht.“
Die Herausforderungen, eine Auslandsgemeinde zu leiten, liegen vor allem im Miteinander. „Die Arbeit hier hat etwas von einer Urgemeinde. Unsere Aufgabe ist es vor allem, die Gemeinschaft zusammenzuhalten.“ Gerade in der Fremde sei es wichtig, ein „Halt für die Menschen zu sein, die zu uns kommen“.
Um das zu vermitteln, sei eine hohe Präsenz gefragt, erzählt die Pfarrerin. Ein Engagement, das die aktuell rund 170 Kirchenmitglieder zu schätzen wissen. Der Kontakt untereinander sei eng. „Wenn es da mal jemandem schlecht geht, sind sofort andere da, die sich um ihn kümmern.“ Das fehle vielen Menschen in Deutschland, sagt sie. „Deshalb haben wir hier auch viele Leute, die in Deutschland keine Kirche besuchten und hier nun fester Bestandteil der Gemeinschaft sind. Weil sie hier das gefunden haben, was sie suchten, nämlich ein soziales Umfeld.“ Dazu gehören organisierte Ausflüge genauso wie das gemeinsame Essen und Beisammensein nach jedem Gottesdienst im Garten.

Religionsunterricht ist nicht üblich

Neben ihrer Kirchenarbeit geben Nora Steen und ihr Mann an der deutschen Schule in Lissabon Religionsunterricht. Dass dies nicht selbstverständlich ist, war ihnen anfangs überhaupt nicht bewusst. „Wir waren völlig erstaunt, als wir erfuhren, dass in Portugal eigentlich kein Religionsunterricht an Schulen vorgesehen ist. Das hängt mit der Trennung von Kirche und Staat zusammen, die auch aus der Verquickung der Diktatur unter António de Oliveira Salazar (1932-1968) mit der katholischen Kirche resultiert. Wir werden zwar toleriert, müssen uns aber sehr zurückhalten, da 85 Prozent der Kinder an der deutschen Schule portugiesisch sind und die Eltern befürchten, dass ihre Kinder von uns zu sehr missioniert werden. Insofern gibt es Schulgottesdienste auch nicht in dieser Selbstverständlichkeit, wie wir es aus Deutschland gewohnt waren.“
Auch Trauungen am Strand sind offiziell verboten, was vor allem Brautpaare aus Deutschland, die hier heiraten wollen, immer wieder bedauern. Portugal hat diesbezüglich seine ganz eigene, besondere Geschichte. Dafür hat die 1761 gegründete Glaubensgemeinde das Privileg, als erste evangelische Kirche in Portugal eine Kirchenglocke zu besitzen, mit der sie zum Gottesdienst läutet. Außerdem hat sie den einzigen deutschen Friedhof auf der iberischen Halbinsel.
Übrigens: Die Tatsache, dass sie selbst als Frau ein Kirchenamt bekleidet, sorgt hierzulande unter den konservativ geprägten katholischen Kollegen immer noch für Aufsehen. Die Pastorin ist sich ihrer Sonderstellung bewusst. „Es passiert manchmal schon, dass lieber mein Mann eingeladen wird oder dass bei ökumenischen Trauungen portugiesische Pfarrer abgelehnt haben, den Gottesdienst mit mir zusammen zu halten“, erzählt sie. „Insofern sehe ich mich hier in einer Vorreiterrolle und als absolute Exotin.“
So manches ist im Ausland anders. Zum Beispiel die Kirchensteuern. „Die erhalten wir hier nicht. Als eingetragener Verein sind wir auf uns selbst gestellt und von freiwilligen Mitgliedsbeiträgen und Spenden abhängig, deren Höhe jeder selbst festlegt.“ Etwas von diesem Geld braucht die Gemeinde aktuell für ein einmaliges Projekt. Zum anstehenden 500. Reformationsfest hat sich das Pastorenpaar etwas Besonderes einfallen lassen. „Wir wollen die weltweit erste portugiesische Fliesenbibel herstellen. Das fertige Werk soll im Rahmen eines ökumenischen Gottesdiensts am 31. Oktober an unserer Kirchenmauer eingeweiht werden“, freut sich Nora Steen. Eine Bibel-Fliesenwand in der Hauptstadt mit Motiven von der Schöpfung bis zu den ersten christlichen Gemeinden. Luther hätte das gefallen.