Ein unglaublicher Kraftprotz mit Ernährungsproblemen

Die Vorstellung, ein Mensch könnte per purer Muskelkraft zwei voll beladene 40-Tonner ziehen, erscheint abwegig. Doch der Stierkäfer, zum „Insekt des Jahres 2024“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz gewählt, ist solch ein Kraftprotz. Er kann mehr als das Tausendfache seines eigenen Körpergewichts transportieren. Er ist von Nordafrika über West- und Mitteleuropa bis ins Baltikum verbreitet und in Deutschland in allen Bundesländern zu finden, auch im Südwesten. Besonders mag er jedoch Heidegebiete und lichte Kiefernwälder mit Sandboden. Im sandigen Untergrund kann er am besten die Tunnel für seine Brutkammern bauen.

Wie andere kotfressende Käfer ernährt sich der Stierkäfer (Typhaeus typhoeus) vom Kot pflanzenfressender Tiere. Damit spielt er für das Ökosystem eine wichtige Rolle. Doch seine Ernährung ist bei Weitem nicht mehr so „gesund“ wie früher. Denn viele Halter von Weidetieren und anderen Großtieren behandeln diese nicht nur bei akuten Krankheiten und Parasiten, sondern vorbeugend. Besonders Anti-Wurmmittel werden regelmäßig prophylaktisch gegeben. Die Wirkstoffe werden im Kot der Tiere wieder ausgeschieden und können zum Tod vieler Mist- und Dungkäfer führen – oder zumindest zu deren eingeschränkten Fortpflanzung.

Außerdem müssen die Fäkalen gut zugänglich sein. Beim Weidevieh ist dies gegeben. Gülle und Mist von Tieren aus Stallhaltung können von den nachtaktiven, eher versteckt lebenden Käfern jedoch kaum verwertet werden. Auch deshalb stellen Fachleute schon seit den 1980er-Jahren einen starken Rückgang der Populationen fest. Den Kot von Kaninchen, Rehen, Rindern, Schafen oder Pferden schiebt der Mistkäfer als Kugel durch die engen Gänge in die Brutkammern. Der Schacht kann im lockeren Boden eine Tiefe von 1,50 Meter erreichen, die Grabbeine des Stierkäfers haben Dorne. Ist die Stierkäfer-Larve aus dem Ei geschlüpft, kriecht sie zur Brutpille und ernährt sich von ihr. Die Entwicklung zum Käfer dauert etwa ein Jahr.

Die Idee zum „Insekt des Jahres“ stammte im Jahr 1999 von Holger Dathe, damaliger Leiter des heutigen Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts im brandenburgischen Müncheberg. Ein Kuratorium mit Insektenkundlern und Vertretern wissenschaftlicher Gesellschaften und Einrichtungen wählt seither das Insekt jedes Jahr aus verschiedenen Vorschlägen aus. Den Vorsitz hat Thomas Schmitt, Direktor des Instituts in Müncheberg.

Seinen wissenschaftlichen Namen verdankt der für 2024 gewählte, 14 bis 20 Millimeter lange Typhaeus typhoeus dem Typhon, einem Riesen mit hundert Drachenköpfen aus der griechischen Mythologie. Sein deutscher Name „Stierkäfer“ kommt nicht von seinen Kräften, sondern von den drei Hörnern, die nur der männliche Käfer hat. Die beiden äußeren sind wie beim Stier nach vorne gerichtet. „Diese hornartigen Verlängerungen werden beim Kampf mit Rivalen und zum Schutz der Nistplätze eingesetzt“, erklärt Schmitt.

Weltweit gibt es fast 10.000 Arten kotfressender Käfer, in Mitteleuropa etwa 130. Von diesen gehören zwölf – wie der Stierkäfer – zur Familie der Mistkäfer. Werner Schulze, Mitglied des Kuratoriums vom Naturschutzverband NABU, erläutert die vielfältige ökologische Bedeutung der Mistkäfer, die nicht nur den Boden lockern: „Sie fördern den Transport von Pflanzensamen und reduzieren die Emission von Treibhausgasen vor allem aus Kuhfladen.“ Zudem beschränken sie die Entwicklung von Würmern und Fliegen. In Großbritannien wurde der Wert der kostenlosen Dienstleistungen der kotfressenden Käfer auf über 400 Millionen Euro pro Jahr berechnet. Der Stierkäfer und seine Kollegen sind also nicht nur Kraftprotze, sondern ein echter Wirtschaftsfaktor. (0201/26.01.2024)