Ein unbeschreibliches Gefühl

„Es war ein traumatisches Ereignis in meinem Leben,“ erinnert sich Ira Eduardovna an die Abreise ihrer Familien aus Taschkent. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte ihre Familie beschlossen, von Usbekistan nach Israel auszuwandern. Später habe sie die dramatischen Erfahrungen der langen Reise aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Erst vor drei Jahren rief die Künstlerin die Erinnerungen wieder wach, indem sie die Reise in einem Video rekonstruierte. Eduardovna ist eine der insgesamt fünf Künstlerinnen und Künstler, die ab Sonntag im Leverkusener Museum Morsbroich ihre künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema „Heimat“ präsentieren.

Unter dem Titel „Es gibt kein Wort… Annäherungen an ein Gefühl“ zeigt die Ausstellung bis zum 25. August Arbeiten von Jody Korbach, Ahmed Dogu Ipek, Ira Eduardovna, Zoya Cherkassky-Nnadi und Yevgenia Belorusets. Der Ausstellungstitel verweise darauf, dass der Begriff „Heimat“ viele Bedeutungen haben könne, erklärt Kurator Fritz Emslander. Hier biete die Kunst eine Möglichkeit, Assoziationen, Gefühle und Unaussprechliches auf andere Art und Weise auszudrücken. Die Künstlerinnen und Künstler, die aus Deutschland, der Ukraine, Usbekistan und der Türkei stammen, kreisen mit Videoarbeiten, Fotografien, Gemälden, Zeichnungen, Objekten, Grafiken und Skulpturen um die Frage, was Heimat ausmacht.

Die 1980 in Usbekistan geborene Israelin Ira Eduardovna stellte die Abreise ihrer Familie aus Taschkent mit Hilfe von Schauspielerinnen und Schauspielern nach. Man sieht die Familie mit versteinerten oder tieftraurigen Gesichtern im Zug sitzen, mit dem sie zunächst vier Tage lang nach Russland reisen müssen, um von dort nach Israel zu fliegen. Die Künstlerin kommentiert das Geschehen aus dem Off. „Ich gehe im Gedächtnis immer noch aus der alten Heimat fort, ohne in der neuen ankommen zu können.“

Zoya Cherkassky-Nnadi hat eine ähnliche Lebensgeschichte ebenfalls künstlerisch verarbeitet. Die gebürtige Ukrainerin, die 1991 als 15-Jährige mit ihrer Familie nach Israel auswanderte, erinnert sich in ihrer Gemälde-Serie „My Soviet Childhood“ an die Straßen und Häuser ihrer früheren Heimat Kiew. Im Stil des sozialistischen Realismus malt die Künstlerin etwa eine Mutter mit Kind auf dem Balkon eines Wohnblocks, deren Blicke über die Hochhauslandschaft hinaus in die Ferne schweifen. Sie hält außerdem Straßenszenen aus den neu entstandenen Einwanderervierteln in Israel fest, wo die Zugezogenen ihre Gewohnheiten und ihre Kultur pflegen.

An den Krieg in der Ukraine und die Flucht zahlreicher Ukrainer knüpft die in Berlin und Kiew lebende Fotografin und Autorin Yevgenia Belorusets an. Die 1980 geborene Künstlerin ist mit Plakaten und Billboards im Außenbereich des Museums und der Stadt vertreten.

Ahmed Dogu Ipek aus der Türkei befragt mit seinen Skulpturen und Aquarellen den Umgang mit unserem Heimat-Planeten. Der 1983 geborene türkische Künstler präsentiert in Leverkusen unter anderem eine Walnussbaum-Wurzel, in die er ein mit traditionellen orientalischen Ornamenten verziertes Tischchen schnitzte. Die Skulptur steht auf einem Orientteppich mit floralem Muster. Natur und Kultur gehen hier ineinander über. Der Walnussbaum ist entwurzelt. Zugleich ist der geschnitzte Tisch in dem Baum verwurzelt. Ipek präsentiert in Leverkusen unter anderem auch Aquarelle und Bleistiftzeichnungen.

Mit einer breiten Palette an Arbeiten ist die Düsseldorfer Künstlerin Jody Korbach in der Ausstellung vertreten. Sie zeigt Installationen, Öl- und Aquarellmalerei sowie Objekte und Skulpturen. Die 1991 geborene Künstlerin beschäftigt sich unter anderem mit der Wohlstandsgesellschaft als kleinstem gemeinsamen Nenner für positive „Heimat“-Gefühle der Deutschen. So greift sie in Aquarellen die Farben und Logos von Supermarktketten auf. Das Logo der Apotheken, das stilisierte rote „A“, steht mit einer Art Pflaster versehen in einer Ecke. Eine Kommode im Stil „Gelsenkirchener Barock“ ist mit den gelben Buchstaben „Edeka“ besprüht.

Es gehe ihr unter anderem um die Frage, wer in der Wohlstandsgesellschaft mitmachen könne, sagt Korbach. Die billig hergestellte Kommode, die den Stil barocker Möbelstücke nur nachahmt, sei ein Beispiel für gebrochene Versprechen. Ein Möbel also, das den Wohlstand lediglich vortäusche.