“Ein Summen und Musizieren in der ganzen Stadt”
Mit gut leserlicher Handschrift hat Irmgard Kühn alle Deutschen Evangelischen Kirchentage mitsamt dem jeweiligen Leitwort aufgelistet. Anderthalb DIN A 4-Seiten, eng beschrieben, beginnend mit „1949 – Hannover – Kirche in Bewegung“ liegen vor ihr auf dem Esstisch in ihrem Haus in Osnabrück. Unterstrichen hat die 89-Jährige diejenigen Christentreffen, an denen sie und ihr Mann Siegfried (90) über fast sieben Jahrzehnte teilgenommen haben. 14 waren es insgesamt.
Zu Kirchentagen fanden sich zeitweise mehr als 100.000 Christinnen und Christen in immer anderen Städten zusammen, zunächst jährlich, ab 1957 alle zwei Jahre. Das 39. Treffen wird vom 30. April bis 4. Mai 2025 in Hannover ausgetragen.
Die Gemeinschaft mit Zehntausenden Gleichgesinnten hat die Kühns jedes Mal aufs Neue begeistert. „Dieses Flair“, schwärmt Irmgard Kühn. Nicht nur die riesigen Open-Air-Gottesdienste, Abende der Begegnung, Konzerte und hochkarätig besetzten Polit-Diskussionen hätten sie in ihren Bann gezogen. „Ein Singen und Summen und Musizieren lag in der ganzen Stadt.“ Straßen und Busse und Bahnen seien voller Menschen gewesen, „mit farbigen Schals um den Hals und Instrumenten auf dem Rücken“.
„Die Fröhlichkeit und die Lebendigkeit waren überall zu spüren“, ergänzt ihr Mann. Auch auf Menschen, die der Kirche eher ferngestanden hätten, sei der Funke übergesprungen. „Wir haben die Kirche nach außen getragen“, blickt er mit Stolz zurück.
Zwölfmal sind die eingefleischten Kirchentags-Fans mit ihrem selbst gebauten Wohnanhänger zu den Christentreffen gereist. Gemeinsam mit anderen Campern haben sie jeweils auf Wiesen am Stadtrand ihr Quartier aufgeschlagen. „Abends haben wir dann immer unsere Erlebnisse und Eindrücke vom Tage ausgetauscht“, sagt Siegfried Kühn schwärmerisch und streicht über das hölzerne Modell des Wohnwagens, den sie längst verschenkt haben.
Fast zu jedem Kirchentag können die Kühns eine Geschichte erzählen. Irmgard Kühn nimmt ein stramm gefülltes Säckchen aus halb vergilbtem weißem Baumwollstoff in die Hand. Die Körner im Innern reiben hörbar aneinander. „Ihr seid das Salz der Erde“ – in roten Buchstaben ist das Leitwort des Kirchentags in Stuttgart 1999 aufgedruckt. „Das war uns damals sehr eindrücklich. Wir haben stundenlang darüber diskutiert, was uns der Glaube bedeutet.“ Deshalb hängt das Säckchen mit Salz noch heute in der Küche an der Wand – unter den Topflappen hat es seinen Platz.
In Leipzig 1997 haben sie einmal nicht im Wohnwagen, sondern bei einer Familie aus der Partnergemeinde gewohnt. Daraus ist eine langjährige Freundschaft entstanden. Umgekehrt haben auch sie vielen Menschen ihr Haus geöffnet, zum Beispiel beim Deutschen Katholikentag in Osnabrück 2008.
Beim ersten Kirchentag nach dem Krieg in Hannover waren die Kühns noch Teilnehmer einer Jugendgruppe: „Da waren wir gerade konfirmiert und haben tatsächlich unter freiem Himmel geschlafen“, erzählt der Ehemann. Er erinnert sich noch, wie mitten in der Nacht ein dicker Ast von einem Baum herunterkrachte: „Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.“
Sie reden mit Bedacht, lassen einander ausreden. Der Überschwang ist ihre Sache nicht. „Mit dem Glauben sind wir aufgewachsen. Das ist ein wichtiger Teil unseres Lebens“, sagt Irmgard Kühn. Mit ihrem kurz geschnittenen weißgrauen Haar wirkt sie fast jugendlich.
In der Jugendgruppe der Matthäusgemeinde in Osnabrück habe es begonnen – die Liebe zur Kirche und die Liebe zueinander, berichtet das Paar. Seit 63 Jahren sind die beiden verheiratet. Bis heute gehören sie zur Gemeinde, der Gottesdienst dort gehört für sie zum Sonntag. Jeden Abend vor dem Schlafengehen beten sie gemeinsam: „Für unsere Kinder und Enkel, Freunde und alle, die uns nahestehen, aber auch für die Menschen in den Brandherden dieser Welt“, erklärt Siegfried Kühn.
Auf dem Regal gegenüber dem Esstisch reihen sich exklusive Souvenirs ihrer zahlreichen sonstigen Reisen aneinander: ein eisernes Vorhängeschloss aus Indien, Stoffpüppchen aus Guatemala, ein Schiff aus dem Oman. Kaum ein Land der Welt, das sie nicht besucht haben.
Nur die Mongolei hatten sie sich noch aufgehoben. Aber mittlerweile ist ihnen das Reisen doch zu beschwerlich geworden. 2017 in Berlin und Wittenberg war ihr letzter Kirchentag. „Wir sind dankbar und leben von den vielen schönen Erinnerungen“, sagt Irmgard Kühn.