Ein Stück Ersatz für die Familie

Heiligabend allein vor dem Fernseher sitzen – das muss nicht sein. Kirchengemeinden und Initiativen bieten Feiern für allein lebende Menschen an, mit Liedern und Überraschungen.

Marcus Rudolph gehört zu den regelmäßigen Besuchern der Weihnachtsstube
Marcus Rudolph gehört zu den regelmäßigen Besuchern der WeihnachtsstubeJens Schulze / epd

Hannover/Bremen. "Süßer die Glocken nie klingen" schallt es vom Weihnachtsmarkt herüber, doch Marcus Rudolph ist nicht so richtig weihnachtlich zumute. Vor ein paar Jahren hat er seine Mutter und seinen Stiefvater verloren, erzählt der 46-Jährige. "Seitdem ist Weihnachten für mich kein Familienfest mehr." Ganz allein will er den Heiligabend aber auch nicht verbringen. Deshalb geht er seit vielen Jahren zur "Weihnachtsstube" des Diakonischen Werks in Hannover. "Das ist jedes Jahr fest in meinem Programm drin."
Allein 19 solcher Weihnachtsfeiern mit Liedern, Weihnachtsquiz, Überraschungen und einer festlich geschmückten Kaffeetafel werden in diesem Jahr in Hannover angeboten, und es werden immer mehr. Auch in vielen anderen Städten wie in Bremen öffnen Kirchengemeinden oder soziale Begegnungsstätten an Heiligabend ihre Türen, damit Alleinlebende das Fest gemeinsam feiern können. "Die Weihnachtsstuben sind eine Art Familienersatz", sagt Jutta Schulte, die das Angebot für die evangelische Kirche in Hannover koordiniert. "An solchen familiengeprägten Festen wie Weihnachten fühlen sich viele allein lebende Menschen einsam."

Auch Wohnungslose unter den Gästen

Zwischen 20 und 100 Besucher kommen in der Regel in eine "Weihnachtsstube". In Hannover werden diesmal zusammen rund 850 Gäste erwartet. Unter ihnen sind viele Ältere, deren Kinder oder Enkel vielleicht weit weg wohnen. Aber auch jüngere Menschen sind dabei. Bei der Diakonie sind es viele Wohnungslose – so wie Marcus Rudolph. "Dort kann man sich mit den Leuten richtig ernsthaft unterhalten", erzählt er und freut sich schon auf Christstollen und Marzipankartoffeln.
Rudolph verkauft in Hannover die Straßenzeitung "Asphalt" und produziert für Radio und Internet ehrenamtlich drei Magazine für Wohnungslose, für die er unermüdlich unterwegs ist. Der Kontakt zu seinen Halbgeschwistern ist abgerissen, auch an Weihnachten. "Die sehen mich als schwarzes Schaf der Familie." Immerhin sieht er gelegentlich seinen 17-jährigen Sohn.

Was Einsamkeit bedeutet

Familienerinnerungen spielten eine große Rolle an Weihnachten, sagt die Bremer Psychologin Sonia Lippke. Menschen erinnerten sich, wie sie als Kinder in vertrauter Runde am Tannenbaum zusammensaßen oder gemeinsam in die Kirche gingen. "Diese Erfahrungen sind ganz tief abgespeichert", erläutert die Professorin der Bremer Jacobs University. Ein Lied im Radio oder der Geruch von Tannenzweigen – und schon seien die Bilder von früher wieder da.
Alleinsein müsse dabei nicht automatisch Einsamkeit bedeuten, sagt Lippke. Im Gegenteil: "Alleinsein fördert Konzentration und Kreativität." Einsam fühle sich ein Mensch erst, wenn er am Alleinsein leide und unglücklich sei. Lippke sieht Einsamkeit als eine Art Frühwarnsystem der Seele. Menschen, die darunter litten, sollten gezielt die Begegnung mit anderen Menschen suchen.
"Wer die Einsamkeit nicht ernst nimmt, der kann in einen Zustand wie die Depression hineinschlittern", betont die Psychologin. Deshalb seien soziale und kirchliche Einrichtungen wie die Telefonseelsorge so wichtig. Oder eben die Weihnachtsstuben.

Feier im Internet finden

Wer nicht in einer Weihnachtsstube von Kirchen, Kommunen oder Verbänden feiern möchte, der findet inzwischen auch im Internet zahlreiche Möglichkeiten, das Fest in gemütlicher Runde mit anderen zu verbringen. Bei Ebay-Kleinanzeigen etwa häufen sich die Angebote. Die Facebook-Gruppe "Weihnachten (nicht) allein 2018" hat mehr als 2.000 Mitglieder. Und auch auf Twitter schließen sich unter #KeinerBleibtAllein viele Nutzer zum Feiern zusammen – die Initiative der evangelischen Kirche und der Telefonseelsorge hat mittlerweile mehr als 4.300 Follower.
Auch Marcus Rudolph will nicht in Erinnerungen versinken, sondern blickt nach vorn. Vielleicht kann er in der Weihnachtsstube ja neue Kontakte knüpfen, die er für seine Radiosendungen verwenden kann? "Ich lenke mich ab", sagt Rudolph: "Einsam – was ist das?" (epd)