Ein Streifzug durch die Theaterlandschaft in Deutschland
In diesen Tagen beginnt an den Theatern der Republik die Spielzeit 2024/25. Was bewegt die Menschen hinter, auf und vor der Bühne? Versuch einer Bestandsaufnahme von Koblenz über Konstanz und Görlitz bis nach Weimar.
Wenn es rund läuft, dann ist es, als fügten sich die Teile eines Puzzles wie von Zauberhand zusammen. So wie an diesem Spätsommerabend in Koblenz. Die 24-jährige Sophia Walter betritt die Bühne. Auf dem Spielplan steht die Premiere des Stücks “Nennt mich nicht Ismael!” nach dem gleichnamigen Jugendroman des australischen Autors Michael Gerard Bauer. Mithilfe der von Betty Wirtz gestalteten Puppen schlüpft Sophia Walter unter der Regie von Stephan Siegfried in die verschiedensten Rollen. Mit Tempo und Humor erzählt sie, wie der schüchterne Teenager Ismael lernt, sich in seiner Schule zu behaupten.
Hinterher herrscht Einigkeit unter den Zuschauern: Die Premiere hätte deutlich mehr als die 40 Besucher verdient gehabt. Die Reise durch die Theaterlandschaft in Deutschland zum Auftakt der Spielzeit 2024/25 beginnt mit zwei Erkenntnissen: Auf den offiziell erfassten rund 300 Bühnen der Republik – tatsächlich dürften es mehr sein – wird dem Publikum eine Menge geboten. Aber nicht immer findet das Publikum den Weg dorthin. Auch wenn die durch die Corona entstandenen Einbrüche fast wieder ausgeglichen sind: Fast 23 Millionen Zuschauer gingen Spielzeit 2018/19 ins Theater, die “Werkstatistik” für 2022/23 verzeichnet circa 18,6 Millionen Zuschauer.
Die Auswirkungen der Pandemie hat Karin Becker mit voller Wucht abbekommen. Die gebürtige Stuttgarterin wurde 2020 Intendantin am Theater Konstanz. Von Resignation oder gar Erschöpfung ist im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) aber nichts zu spüren. Im Gegenteil. Besucher und Kreative am Bodensee, berichtet Becker, würden jünger – und diverser.
Seit Jahren engagiere sich das Theater im Kinder- und Jugendbereich, sagt die Intendantin. “Wir laden Schulen und Kindergärten ein, von dort kommen jährlich mehr als 10.000 junge Besucher.” Die jüngsten Zuschauer seien ein guter Gradmesser für die eigene Arbeit: “Die sagen uns frei raus, ob ihnen ein Stück etwas bedeutet oder nicht.”
In der aktuellen Spielzeit will Becker erstmals ein Stück mit einer gehörlosen Schauspielerin auf die Bühne bringen: “Auf die Insel fertig los!”, heißt es. “So viele großartige Künstlerinnen und Künstler mit Behinderungen wurden viel zu lange übersehen”, beklagt die Intendantin. “Sie sollen sich und ihre Themen präsentieren dürfen. Wir müssen Sehgewohnheiten ändern.”
Sorge bereiten der Theaterfrau mit fast drei Jahrzehnten Berufserfahrung andere Dinge. “Insgesamt sieht es für das Theater, aber auch für Kino, die Bildenden Künste, für Museen, Sport, aber auch für Bildungseinrichtungen in ganz Deutschland düster aus.” Sie sei sicher, “dass in den kommenden Jahren nicht beim Militär oder bei den Autobahnen gespart werden wird, sondern bei der Kultur, bei Bildung und beim Sport.”
Beim Deutschen Bühnenverein, dem in Köln ansässigen Interessen- und Arbeitgeberverband der Theater und Orchester, sieht man die Sache ähnlich. “Wir leben in Zeiten multipler Krisen, bedingt durch die Pandemie, den Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Energiekrise, die Inflation, den Nahost- Konflikt”, sagt die geschäftsführende Direktorin, Claudia Schmitz, der KNA. “Diese Krisen haben unmittelbare Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt, aber auch auf die finanzielle Situation der Länder und Kommunen. Vor diesem Hintergrund verschlechtern sich die finanziellen Rahmenbedingungen für die Theater und Orchester zunehmend.”
Auf der einen Seite stünden nachvollziehbare Forderungen der Beschäftigten nach gleicher Bezahlung und einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, erläuterte Schmitz. Auf der anderen Seite würden Tarifsteigerungen für die Beschäftigten in den Theatern und Orchestern von den Trägern nicht mehr übernommen, Zuwendungen eingefroren oder gekürzt, dringend notwendige Sanierungen der Theatergebäude und Konzerthäuser gestoppt.
Dies alles geschehe in einer Zeit, “in der wir diese Orte mehr denn je brauchen”, so die Vertreterin des Deutschen Bühnenverbands. “Kunst zeigt uns, dass die Welt veränderbar ist und dass wir es sind, die die Kraft haben zu dieser Veränderung. Theater geben dem gemeinsamen Denken über Veränderung einen Raum.” Theater bezeichnete Schmitz als “Orte des Dialogs und damit Bastionen der Demokratie”.
Wie es um die finanzielle Situation steht, lässt sich in der östlichsten Stadt Deutschlands besichtigen. Intendant Daniel Morgenroth bietet derzeit den Erwerb der Namensrechte an dem bislang nach Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann (1862-1946) benannten Theater Görlitz-Zittau an. Mit Blick auf die aktuelle Spielzeit unter der Überschrift “KAPITAL” habe man viel “über Geld, über fehlenden Mittel für die Kultur und ökonomische Mechanismen” gesprochen, so Morgenroth. “In diesem Zuge kamen wir im Leitungsteam auf die Idee mit dem Namenssponsoring.”
Im Sport sei es gang und gäbe, dass Konzerne die Namensrechte an Sportarenen oder Veranstaltungshallen erwerben. Dieses Vorgehen könnten auch die Theater nutzen, die zudem über ein riesiges Werbepotenzial verfügten, begründete Morgenroth seinen Vorstoß. Ist das alles vielleicht nur ein Scherz, ein spielerisches Experiment? Nein, nein, beteuert der Intendant. “Natürlich ist die Aktion ernst gemeint.”
Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen stellt sich zudem die Frage, welche Folgen der Aufstieg der AfD für den Kulturbetrieb haben könnte. “Die jüngsten Landtagswahlen werden im Ergebnis dazu führen, dass Fragen nach der Notwendigkeit von geförderter Kunst und Kultur lauter werden”, sagt Claudia Schmitz vom Deutschen Bühnenvereine. Zusammen mit den finanziellen Problemen könne daraus eine Argumentationslinie entstehen, “die ein größer werdender Teil der Gesellschaft demokratiegefährdend zu nutzen weiß”.
In Thüringen liegt die letzte Station der Reise durch die deutsche Theaterlandschaft. Es geht nach Weimar, Herzkammer der deutschen Klassik. Folgt man den Hinweisschildern in der Altstadt, sind die längst verblichenen Dichterfürsten Goethe und Schiller gefühlt in jedem zweiten Haus schon einmal abgestiegen. Im Deutschen Nationaltheater sitzt einer, der etwas über die Gegenwart sagen kann: Intendant Hasko Weber.
“Kostbare Zuversicht” heißt das Motto der aktuellen Spielzeit. Herr Weber, wie bitteschön sind Sie denn darauf gekommen? “Zuversicht gehört zur positiven Grundausstattung unserer Gesellschaft”, so der Intendant. Der Zusatz “kostbar” solle deren Wirkmacht verdeutlichen. Die kleinen und großen Krisen dieser Welt will Weber nicht schönreden. Aber: Zuversicht könne dabei helfen, “neue Wege zu sehen und Probleme zu lösen”.
Ob das zu Beifall beim Publikum führt? Der Deutsche Bühnenverein spricht jedenfalls schon jetzt von einem steigenden Trend bei den Besucherzahlen. “Weil die Bühnen immer mehr Menschen mit vielfältigeren Programmen auch an neuen Orten erreichen – in der Stadt und auf dem Land.”