Ein Schreckensort des Zweiten Weltkriegs ringt um Aufmerksamkeit

Verrostetes Besteck, Lederreste, Häftlingsmarken aus Metall: Über 1.000 Gegenstände aus dem Zweiten Weltkrieg haben Archäologen und Ehrenamtliche im Boden des ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenenlagers „Stalag 326“ im heutigen Schloß Holte-Stukenbrock bei Bielefeld entdeckt. In eine zerbeulte Aluminium-Schüssel hat jemand eine idyllische Berglandschaft mit einem eingezäunten Hof und kyrillische Schriftzeichen eingeritzt. „Es ist eines der wenigen persönlichen Funde, die Einzelschicksale unmittelbar sichtbar machen“, sagt Michael Malliaris, Archäologe beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).

Der Forscher vermutet, dass das Motiv die Heimat eines Gefangenen zeigt. „Es drückt Heimweh aus, ist aber auch Erkennungsmerkmal des Besitzers der Essschüssel.“ Zwischen 1941 und 1945 durchliefen etwa 300.000 sowjetische Rotarmisten das „Stalag 326“, eines der größten Stammlager für Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Schätzungen zufolge starben bis zu 65.000 von ihnen infolge der katastrophalen Bedingungen an Krankheiten und Hunger.

Das Stammlager „326 VI K“ war eines von zwölf sogenannten Russenlagern der Wehrmacht, wie Oliver Nickel, Geschäftsführer der Gedenkstätte in Stukenbrock, erklärt. Von dort seien die Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit im Bergbau, in Fabriken und in der Landwirtschaft verteilt worden. „Allein 200.000 Männer wurden in Richtung Ruhrgebiet geschickt, doch auch die damaligen v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel setzten Zwangsarbeiter ein.“

Laut einer Notiz eines Lagerarztes der Wehrmacht, der für die Musterung zuständig war, kamen viele der sowjetischen Soldaten „schon halb tot“ in Stukenbrock an, abgemagert, ohne Schuhe. Fotografien von damals zeigen, wie Gefangene aus Angst vor Diebstahl auf ihrer Essschüssel schliefen, in dem kargen Lageralltag war sie ihr einziges Hab und Gut. „Von Anfang an war das Massensterben miteinkalkuliert gewesen“, stellt Nickel fest.

Eine Dokumentation im ehemaligen Arrestgebäude gibt Einblick in die Geschichte des Ortes. Frei zugänglich ist er bis heute allerdings nicht, da sich auf dem Gelände seit Mitte der 60er Jahre ein Trainingszentrum der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen befindet.

Unter der Federführung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe soll der Erinnerungsort in den kommenden Jahren nun zu einer nationalen Gedenkstätte ausgebaut werden. Die jüngsten archäologischen Funde sollen dann Teil einer multimedialen Ausstellung sein. Über das mit 50 Millionen Euro veranschlagte Projekt stimmen der nordrhein-westfälische Landtag und die Gremien des Landschaftsverbands nach der Sommerpause abschließend ab.

Das Vorhaben ist in der Region nicht unumstritten. Zwischenzeitlich stand es auf der Kippe, nachdem der Kreistag Gütersloh gegen eine finanzielle Beteiligung gestimmt hatte. Das Projekt sei „überdimensioniert“, kritisierten die Fraktionen von CDU, AfD und den Freien Wählern. Ein von NRW-Landtagspräsident André Kuper ausgehandelter Kompromiss, der ein niedrigeres Budget bei den späteren Betriebskosten ansetzt, wurde zu guter Letzt angenommen.

Auf ein großes Besucher- und Bildungszentrum wird jetzt verzichtet, stattdessen werde ein funktionales Eingangsgebäude gebaut, sagt LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschhoff-Parzinger. Das inhaltliche Konzept bleibe aber unverändert, betont sie. Ziel sei, die Gedenkstätte überregional aufzuwerten. Landtagspräsident Kuper unterstreicht, angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, die Rechtsstaaten weltweit unter Druck setzten, sei es wichtig, „einen neuen Ort der Demokratiebildung in der Region zu entwickeln“.

Die zehntausenden Toten des Lagers wurden etwa einen Kilometer entfernt in Massengräbern verscharrt, heute befindet sich dort ein sowjetischer Ehrenfriedhof. Das zwölfköpfige ehrenamtliche Team der Gedenkstätte bearbeitet im Jahr weit über hundert Anfragen von Familien aus ehemaligen Sowjetstaaten, die auf der Suche nach verschollenen Großvätern, Brüdern oder Onkeln sind. Wer den Weg nach Stukenbrock auf sich nimmt, erhält Begleitung. „Diese Form der Schicksalsaufklärung und Angehörigenbetreuung möchten wir in Zukunft weiterführen“, sagt Burkhard Poste, Vorsitzender des Fördervereins der Gedenkstätte.

Das künftige Vermittlungskonzept soll auch stärker digital ausgerichtet sein. Durch den Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Augmented Reality sollen sich Besucherinnen und Besucher am authentischen Ort ein Bild vom Lageralltag vor 80 Jahren machen können. Auch eine App und eine digitale Plattform mit Informationen zum „Stalag 326“ in mehreren Sprachen sind geplant.

Landtagspräsident Kuper geht davon aus, dass die konkrete Planung zum Ausbau noch in diesem Jahr beginnt – mit Förderanträgen beim Bund, einem Gestaltungswettbewerb und gesellschaftsrechtlichen Vorbereitungen. Auch Dezernentin Rüschoff-Parzinger ist optimistisch: „Der Zeitplan sieht vor, 2029 fertig zu sein.“