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Ein Monat nach dem Zugunglück – Bilanz eines Notfallseelsorgers

Mehr als ein Dutzend Mitarbeiter der ökumenischen Notfallseelsorge im Landkreis Biberach waren beim tödlichen Zugunglück bei Riedlingen im Einsatz. Diakon Hans-Jürgen Hirschle vom Leitungsteam bilanziert seine Erfahrungen.

Es waren Bilder wie aus einem Katastrophenfilm – doch sie waren schrecklich real: Zwei von vier Zugwaggons komplett entgleist, ineinander verkantet und aufeinander geschoben. “Man hat mir mehrmals angeboten, von einer Brücke aus Blick zu nehmen auf das Geschehen”, sagt der Notfallseelsorger Hans-Jürgen Hirschle. Er habe das abgelehnt. “Was ich nicht sehen muss, brauche ich auch nicht sehen. Weil ich weiß, wie Gleisunfälle aussehen”, berichtet der katholische Diakon einen Monat nach dem schweren Zugunglück bei Riedlingen im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Hirschle war selbst in seinem früheren Leben bei der Bahn beschäftigt, davon allein sieben Jahre als Fahrdienstleiter. An jenem Sonntagabend des 27. Juli betreute der 68-Jährige als ehrenamtliches Mitglied im Leitungsteam der Notfallseelsorge im Landkreis Biberach Angehörige in einem Bürgerzentrum.

Das Entgleisen des Regionalexpresses kostete drei Menschen das Leben: dem 32-jährigen Lokführer, einem 36 Jahre alten Mitarbeiter der Zuggesellschaft und einer 70-jährigen Reisenden. 36 Menschen wurden verletzt, einige davon schwer. “Es war ein MANV-Einsatz – ein Massenanfall von Verletzten”, zitiert Hirschle die Fachsprache und Abkürzung für solche Extremlagen. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen davon aus, dass der Zug entgleiste, weil es nach Starkregen zu einem Erdrutsch auf die Gleise kam.

Ist die Arbeit der Notfallseelsorger inzwischen abgeschlossen? “Angehörige der drei Toten begleiten wir nicht mehr”, sagt Hirschle. Der Lokführer und der getötete Auszubildende der Zuggesellschaft stammten aus dem Raum Singen in Baden-Württemberg – die Betreuung ihrer Angehörigen habe die dortige Notfallseelsorge übernommen, so Hirschle. Der Ehemann der getöteten Frau sei am Unglücksabend “von uns begleitet worden”, so der Diakon.

Direkt nach dem Unfall hätten Notfallseelsorger zudem Menschen aufgesucht, die nahe der Unglücksstelle wohnen – “und den lauten Knall gehört haben”. Auch der Bauer wurde kontaktiert, “der den Baumstamm weggezogen hat mit seinem Traktor, damit die Rettungskräfte dorthin konnten”. Mit all diesen “Nachbarn” des Unglücks hätten die Seelsorger in den ersten Tagen gesprochen.

Als die Notfallbegleitung zu Ende war, wurden Betroffene darauf hingewiesen, dass bei ihnen eine posttraumatische Belastungsstörung auftreten könnte. Typisch dabei ist, dass das traumatische Erlebnis einen nicht loslässt – und belastende Erinnerungen wiederkehren. Die Notfallseelsorger stoßen hier an ihre Grenzen. Sie verweisen dann auf professionelle psychotherapeutische Hilfe.

In den ersten Minuten, Stunden und Tagen nach solch einem Schreckensereignis aber werden Notfallseelsorger dringend gebraucht. “Zuhören, zuhören, zuhören” sei dabei die oberste Priorität, betont Hirschle. “Still dabeizusitzen und dies auszuhalten ist manchmal schwieriger, als selbst zu sprechen.” Notfallseelsorger müssten herauszuhören, wo genau die Problematik beim jeweiligen Betroffenen liege. “Das teilt er uns mit der Zeit schon mit.” Angehörige wie auch Betroffene hätten dabei vor allem einen Gedanken: Wie überlebe ich die nächste Zeit?

Und wie ist es mit der Frage nach Gott – “warum hat Gott das zugelassen”? Wurde sie gestellt? An jenem Abend im Bürgerzentrum und den Tagen danach sei dies nicht der Fall gewesen, sagt Hirschle. “Es gab in keinem Gespräch die Gottesfrage.”

Rund eine Woche nach dem Zugunglück gab es noch einen Termin mit der Bundespolizei, die für die Bahn zuständig ist. Dabei konnten Fahrgäste Utensilien, die im entgleisten RE 55 geborgen wurden und keinem bestimmten Fahrgast zugeordnet werden konnten, abholen. Zu dem Termin kamen leicht und mittelschwer Verletzte, so Hirschle. Auch dabei waren Notfallseelsorger anwesend. Damit war ihr Einsatz zunächst abgeschlossen.

In den nächsten Wochen werde es noch eine Nachbesprechung der 16 Kräfte der Notfallseelsorge im Landkreis Biberach geben, die am 27. Juli im Einsatz waren. “Da wollen wir noch mal Revue passieren lassen: wen hat man betreut oder begleitet, was ist gut gelaufen und was könnte man optimieren”, sagt Hirschle. Denn niemand weiß, zu welchem Notfall die Seelsorger als nächstes gerufen werden.