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Ein Liebhaber der Sünder

Jesus und die Ehebrecherin. Gedanken zum Predigttext für den 4. Sonntag nach Trinitatis.

Von Wolfgang Niemeyer

Predigttext am 4. Sonntag nach Trinitatis: Johannes 8,3–113 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Was ist eine strafbare Handlung? Im alten Israel galt: „Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben, Ehebrecher und Ehebrecherin, weil er mit der Frau seines Nächsten die Ehe gebrochen hat“ (3. Mose 20,10). Auch bei uns ist es noch nicht lange her, dass über die Schuldfrage am Zerbrechen einer Ehe ein Familienrichter zu urteilen hatte. Warum über Jahrhunderte hinweg den Männern ungleich mehr Recht zur „ungestraften“ Übertretung des Ehevertrages zugestanden wurde, oder warum eine Frau viele Zeitalter hindurch keine Person des öffentlichen Lebens sein durfte, das sind Fragen, die Jesus durch sein Vorbild in Wort und Tat, durch seine Deutung des Willens Gottes den Männern damals wie heute ins Gewissen schreibt.In der im Text dargestellten Szene im Tempelvorhof wird das überdeutlich in dem zweimaligen Hinweis: „Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Jesus, der Mann ohne Legitimation durch beruflich abgeleitete Macht, aber gewaltig lehrend, von Gott selbst autorisiert, den Menschen vollmächtig zu helfen und sie zu heilen – dieser Jesus war Pharisäern und Schriftgelehrten ein Stein des Anstoßes geworden.

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