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Ein Gehirnforscher erklärt, wie man das Warten lieben lernt

Man sitzt im Wartezimmer und sollte eigentlich schon seit einer halben Stunde aufgerufen worden sein. Ätzend? Nicht unbedingt – sagt ein Gehirnforscher. Er sieht das Warten eher als Chance.

“Zu warten kann eine positive Erfahrung sein”, sagt der Gehirnforscher Marc Wittmann. “Wenn ich etwa an der Supermarktkasse stehe oder der Zug einmal wieder Verspätung hat, habe ich Zeit, um über andere Dinge nachzudenken. Ich kann zum Beispiel überlegen, wo ich gerne in Urlaub fahren möchte, oder ich höre einmal in mich hinein, was gerade emotional in mir vorgeht.”

Allein durch das Warten – ohne sich dabei mit dem Smartphone zu beschäftigen – werde im Kopf problemlösendes Denken angestoßen, so der Wissenschaftler vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg. Um das Warten so positiv zu erleben, sei es aber zuallererst notwendig, sich mit einer negativen Bewertung der Situation zurückzuhalten. Wittmann nennt dies “kognitives Umstrukturieren”: Damit meint er, nicht sofort in das klassische Muster zu verfallen, sich aufzuregen. Stattdessen sei es notwendig, die Chance in der Wartezeit zu erkennen.

Vielen fällt das aber in Deutschland laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov für die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) nicht leicht. Auf die Frage, was sie fühlen, wenn sie etwa an der Bushaltestelle sitzen, sagt ein gutes Drittel der Befragten (34 Prozent), dass sie ungeduldig werden. 7 Prozent empfinden beim Warten sogar Ärger. 14 Prozent wiederum ist es egal. Gleichzeitig sagen 28 Prozent von sich, gelassen zu reagieren, wenn sich die Zeit im Wartezimmer länger hinzieht als erwartet. 12 Prozent haben dafür nach eigenen Angaben eher Verständnis.

Aber wann fängt Warten überhaupt an – und wann ist die Zeit des Nichtstuns eher Entspannung? Immerhin gibt es auch die Muße, wenn man einmal bewusst nichts tut, um sich zu erholen. Wann also verdient die Zeit den Stempel “Wartezeit”? Zunächst einmal scheint es, als würde man fast immer auf etwas warten: die Reaktion von Freunden auf einen Insta-Post, die Antwort des Finanzamts auf die Steuererklärung, das Wochenende.

“Warten hat etwas mit Zielorientierung zu tun”, erklärt Philosoph Wittmann. Das Warten auf den Anruf der Liebsten oder das Ende der Unterrichtsstunde seien Aktivitäten, die auf etwas hin gerichtet sind. Bei der Muße hingegen halte man einen Zeitraum bewusst frei von Ergebnissen und Zielen – die Zeit vergehe zwar auch gefühlt langsamer, aber man genieße den Moment.

Im Gegensatz zu Zeiten, in denen Menschen etwas zu tun haben, nehme man sich beim Warten zudem sehr stark selbst wahr. Das nehmen manche als unangenehm wahr. Ob die Zeit zu langsam vergeht, hänge zudem auch vom Charakter ab. Menschen, die impulsiver sind, also schneller unüberlegt auf etwas reagieren – für die vergehe die Zeit, in der sie nichts tun können, noch langsamer.

Wie jemand diese Zeit wahrnehme – ob positiv oder negativ – und welche Gefühle diese Bewertung infolge auslöse, sei außerdem kulturbedingt: “Menschen in Industrienationen, die in einer schnelleren Geschwindigkeit leben, sind besonders ungeduldig”, sagt Wittmann. Außerdem gebe es ein Stadt-Land-Gefälle.

Der Forscher erklärt, dass es in manchen Ländern eher üblich sei, gemeinsam zu warten. Während die Menschen in vielen Industrienationen individuell “durchrationalisiert” seien, also in ihrem eigenen Tagesplan vorankommen wollten, trinke man etwa in anderen Ländern einen Tee und nehme dieses “soziale Warten” positiv wahr.

Obendrein sei die heutige Zeit eine, in der alles sofort erreichbar sein soll – das Abendessen solle mit einem Fingerschnippen auf dem Couchtisch stehen, die neuen Inline-Skates am nächsten Tag vor der Haustür liegen. Aber geht auch etwas verloren, wenn niemand mehr auf Dinge warten muss?

“Wenn wir auf nichts mehr warten müssen, geht uns die Vorfreude verloren”, sagt der Gehirnforscher. Er nennt ein Beispiel: Als er als Teenager in Schottland gewesen sei, habe er zwei Wochen warten müssen, bis er sich die geschossenen Fotos mit seinen Freunden anschauen konnte – weil er sparen wollte, wählte er den günstigen Tarif für die Entwicklung; das dauerte ein wenig länger. “Wenn dann aber das Paket mit den Fotos im Briefkasten war, war das echt etwas Besonderes, weil ich darauf gewartet habe.” In der Zeit bis dahin habe er diesem Moment entgegengefiebert.

Dass heute vieles schneller geht, hat auch Vorteile, betont Wittmann. Trotzdem kann es sich lohnen, das angenehme Warten zu lernen – insbesondere, wenn der Umbau des deutschen Bahnnetzes noch bis mindestens 2050 dauern soll.