Von Monika Herrmann
Berthold Pleiß wirft seine Umhängetasche mit einer gezielten Körperdrehung auf den Fußboden. Dann hockt er sich auf den Stuhl in einem Berliner Café. Kein großer stattlicher Mann, aber einer mit fröhlichem Gesicht, einem zerzausten Haarschopf und runder Nickelbrille. Einer, der offiziell als „Contergan-Opfer“ bezeichnet wird, der vor 51 Jahren mit Missbildungen zur Welt kam. „Bitte nennen Sie mich nicht Opfer“, sagt er. Aber er gehört zu den Männern und Frauen, die tatsächlich die Opfer des größten Arzneimittelskandals sind, den es in der Bundesrepublik gab. Grünenthal heißt der Pharmariese, der Ende der 1950er Jahre ein Medikament auf den Markt brachte, das Schlafstörungen beheben sollte. Tausende Frauen nahmen es während der Schwangerschaft. Ihre Kinder kamen mit schweren Missbildungen zur Welt. Auch Berthold Pleiß. „Ich lebe mit einer Behinderung, die mich – wenn auch mit Einschränkungen – am Leben teilhaben lässt, die mir durchaus Freiheiten schenkt und Selbstbestimmung, Punkt.“ Berthold Pleiß hat praktisch keine Arme, nur sehr kurze Stümpfe, an denen seine Hände hängen. Er bestellt heiße Zitrone, wegen seiner Erkältung. Wird er überhaupt trinken können, braucht er vielleicht Hilfe? „Das geht schon“, sagt er und lacht. Mit trickreichen und geübten Körperdrehungen kippt er das Glas leicht an und trinkt Schluck für Schluck den Zitronensaft. Berthold Pleiß kennt dieses Staunen und den Impuls, sofort helfen zu wollen. „Alle reagieren so“, sagt er. Dann erzählt er seine Geschichte. Eine, die begann, als er noch im Bauch seiner Mutter war, die Contergan nahm. Dass der Wirkstoff Thalidomid schwere Schäden bei ihrem Kind auslösen kann, war ihr nicht bewusst. Dann der Schock, die Missbildung. „Meine Eltern wussten erst gar nicht, wie sie damit umgehen sollten“, erzählt Berthold Pleiß. Was ist da passiert, fragten sie die Ärzte. Die hatten keine Antwort. Erst allmählich stellte sich heraus: Familie Pleiß war nicht die einzige, die ein Kind hatte, dem Gliedmaßen fehlten. Es sprach sich herum, dass Frauen, die Contergan genommen hatten, missgebildete Kinder oder solche mit schweren Nervenschädigungen zur Welt brachten.
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