Ein Dorf ringt mit seiner NS-Geschichte

Das Dorf Netra im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis feiert im nächsten Jahr 1.000 Jahre erste urkundliche Erwähnung. Der Ortsteil der Gemeinde Ringgau erstellt zum stolzen Jubiläum eine Festschrift. Doch nicht die ganze Geschichte soll in Klartext darin vorkommen. Ein bei dem örtlichen evangelischen Dekan im Ruhestand, Martin Arnold, bestellter Aufsatz über Netra und seine jüdische Gemeinde im Nationalsozialismus soll in der Festschrift nicht veröffentlicht werden.

Der Festausschuss störe sich an der Nennung der vollen Namen von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und -Tätern und an wertenden Aussagen des Autors, schreibt das Mitglied, der Ortsvorsteher Philipp Pfister, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Festausschuss befürchte, es „könnten die im Dorf lebenden Nachfahren an den symbolischen Pranger gestellt werden und dadurch Unfrieden geschürt werden“. Die lange Geschichte der jüdischen Gemeinde Netras und die Verbrechen an ihr sollten aber „keinesfalls unter den Teppich gekehrt werden“. Ein anderer, bereits 2006 veröffentlichter Artikel zum Thema solle in die Festschrift aufgenommen werden.

Die Vorbehalte kann Autor Arnold nicht nachvollziehen. „Es geht nicht um Moralisieren oder Schuldvorwürfe“, versichert er. „Das Problem ist: Man hat sich nie wirklich mit der Geschichte Netras im Nationalsozialismus auseinandergesetzt.“ Eine frühere Veröffentlichung habe etwa die Akten der Spruchkammern zur Entnazifizierung nicht berücksichtigt.

Die Namen von NS-Tätern zu streichen, komme für ihn nicht infrage, sagt Arnold. Sein Angebot, ein Gespräch mit den Nachfahren zu führen und ihnen seine Arbeit und die Quellen zu erläutern, habe der Redaktionsausschuss abgelehnt. „In der Festschrift muss das Dorf in schönem Licht erscheinen, das kann ich aber nicht liefern“, vermutet der Autor. „Das ist nicht die historische Wahrheit.“ Netra sei eine Hochburg der NSDAP gewesen. Bei der letzten Reichtstagswahl am 5. März 1933 habe die Partei im Ort 84,6 Prozent der Stimmen bekommen.

In dem Aufsatz beschreibt Arnold, wie nach der Machtübernahme Hitlers 1933 in Netra die jüdischen Geschäfte boykottiert wurden, die Käufer beschimpft, Juden verprügelt. Die jüdischen Bewohner wurden gezwungen, ihre Häuser zu Spottpreisen zu verkaufen. Arnold nennt die Namen der führenden Nazis und der jüdischen Familien im Ort. Von den Jüdinnen und Juden aus Netra gelang zehn die Flucht nach Palästina. 40 von ihnen wurden in der NS-Zeit ermordet oder sind verschollen.

Arnold schreibt auch in dem Bericht, dass ab 1948 einige ehemalige NSDAP- und SA-Mitglieder wieder öffentliche Ämter übernahmen und nennt einige Namen, unter anderen von zwei Bürgermeistern. „Eine kritische Distanzierung vom Nationalsozialismus und das Eingeständnis von Schuld ist jedoch nirgends zu beobachten“, lautet ein Fazit.

Die lokale Öffentlichkeit hat schon auf den Konflikt reagiert. Nach einer Veröffentlichung in der „Werra-Rundschau“ habe es mehr als ein Dutzend Leserbriefe und viele Social-Media-Kommentare gegeben, berichtet Arnold. Während manche ihm vorwarfen, er säe Streit im Dorf und nehme Nachfahren in „Sippenhaft“, äußerten andere Zustimmung: „Bleiben Sie standhaft!“. Um Gerüchten über seinen Aufsatz den Wind aus den Segeln zu nehmen, habe er den Text online gestellt. Nächstes Jahr soll er in einer historischen Fachzeitschrift veröffentlicht werden.

Inzwischen hat der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, in einem offenen Brief an den Festausschuss und die Bürgerschaft von Netra appelliert, „dass Sie sich in ihrer Festschrift ehrlich machen und auch die dunklen Teile der Ortsgeschichte benennen“. Heubner mahnt: „Vor allem aber dürfen Sie Ihre jüdischen Mitbürger nicht erneut hinauswerfen – aus Ihrer Festschrift und aus Ihrem Gedächtnis.“

Im November will Arnold einen Vortrag in der evangelischen Kirchengemeinde in Netra über die Ergebnisse seiner Arbeit halten. „Ich habe die Hoffnung, Menschen mit guten Argumenten zu überzeugen“, sagt der Theologe. „Sippenhaft gibt es nicht. Wir haben Verantwortung für unser eigenes Leben.“