Ein Bewahrer des Elsässischen

Seinen Beruf als Anwalt hat Pierre Kretz zu seinem 50. Geburtstag aufgegeben. Er veranstaltete ein Fest unter dem Motto: „Je tombe la robe – Ich lasse die Robe fallen!“ Fortan wollte er hauptberuflich als Schriftsteller arbeiten. „Viele in meiner Umgebung dachten damals, mein Beruf hätte mir nicht mehr gefallen“, erzählt er in seiner Altbauwohnung in Straßburg. Dabei sei er gerne Anwalt gewesen. „Aber gute Literatur schreiben ist nur hauptberuflich möglich“, betont der 74-Jährige auf Deutsch.

Nun, fast 25 Jahre später, erntet Kretz die Lorbeeren für diesen Schritt. Am 10. Mai wird er mit dem Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg geehrt. Die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung wird anlässlich des Geburtstags Hebels in Hausen im Wiesental (Landkreis Lörrach) verliehen. Hebel (1760-1826) gilt mit seinem Band „Alemannische Gedichte“ als Wegbereiter der Mundartliteratur.

In der Begründung der Jury heißt es, Kretz mache mit seinen französischen und elsässischen Werken die Zweisprachigkeit des Elsass in literarisch herausragender Art und Weise sichtbar. Zu seinen Werken gehören unter anderem die auch auf Deutsch übersetzten Bücher „Ich, der kleine Katholik“, „Der Seelenhüter“ oder „Ich bin eine böse Frau“. Ein Buch, dessen Originalfassung auf der linken Hälfte der Seite auf Alemannisch verfasst ist und auf der rechten auf Französisch. Das Alemannische ist eine von mehreren Dialektgruppen, die auch im Elsass verbreitet sind und unter dem Begriff „Elsässisch“ gesammelt werden.

Kretz bezeichnet sich auf seiner Homepage als „Autor, Romancier, Schauspieler und Regisseur“. Das Theater brachte ihn Ende der 1970er-Jahre zum Schreiben von Mundarttexten, 1995 veröffentlichte er sein erstes Werk auf Französisch. Er verfasste Romane, Essays und Erzählungen. Inzwischen sind seine Stücke auch für das Theater adaptiert und in Frankreich, der Schweiz und Deutschland aufgeführt worden. Zudem wurden sie im Schweizerischen Rundfunk und im SWR gesendet.

Befragt zu seiner Begeisterung für Mundarttexte, erzählt Kretz, dass in dem elsässischen Weinbauerndorf seiner Kindheit alle Elsässisch sprachen. „Aber in Straßburg hat man immer weniger Chancen, Dialekt zu reden. Auch meine Enkel reden Französisch, ich rede mit ihnen Französisch“, sagt er. Er schreibe seine Texte nicht mit dem Ziel, die Mundart zu retten. „Es macht mir einfach Spaß, auf Dialekt zu schreiben“, sagt er. Aber es mache ihn traurig, wie Mundarten und Sprachen in der heutigen Zeit verschwinden.

Uta-Maria Heim, zuständig für den Sendeplatz SWR4-Mundarthörspiel, sagt, dass der SWR fast alle Werke von Kretz als alemannische Mundart-Hörspiele inszeniert habe. „Die im Elsass ansässigen Dialekte sind im Schwinden begriffen. In ein, zwei Generationen wird das Alemannisch von Kretz kaum noch als Muttersprache vorkommen“, fürchtet Heim. Das Verbindende der Mundarten über die Grenzen hinweg habe angesichts der wechselhaften Geschichte des Elsass aber eine politische Brisanz. Sie wolle diese Sprache verbreiten und bewahren.

Schwierig sei, dass manche ihrer Hörer die Mundart nicht verstehen. „Das gilt vor allem für das Elsässische, das sich von den Dialekten diesseits des Rheins unterscheidet.“ Aber die Gemeinsamkeiten seien auch so groß, dass Menschen mit alemannischer Muttersprache meist mühelos folgen können. „Wir bekommen auch immer wieder begeisterte Reaktionen auf unsere elsässischen Stücke, weil die Bedeutsamkeit dieser Sprache verstanden wird“, sagt Heim.

Kretz lebt überwiegend in den Vogesen, in einem Dorf namens Sainte-Marie-aux-Mines am Fuß eines Berges. Meist schreibt er in den Morgenstunden seine Texte mit der Hand. Später überträgt er seine Stücke mit Änderungen auf den Computer. Manchmal geht er auch mit seiner Frau Astrid Ruff in ihre zweite Wohnung in Straßburg. Dort schreibt er abends in Bars und Kneipen. Auch seine jüdische Frau ist im Kulturleben unterwegs, sie singt jiddische Lieder. „Wir sehen uns als Künstler, die das ausdrücken, was wir durch unsere Biografien in uns tragen“, sagt Kretz. Und wenn sie damit einen Nerv treffen, dann sei das noch schöner. Gemeinsam haben sie zwei Söhne. Kretz hat noch eine Tochter aus einer früheren Beziehung.

In seinem autobiografischen Roman „Ich, der kleine Katholik“, erzählt Kretz, wie er das katholische Leben in seinem „Sünderdorf“ mit Kinderaugen sah. Wie er sich Lügen für die Beichte ausdachte, obwohl er sonst nie log, und sich fragte, ob Gott England wegen der Loslösung von der katholischen Kirche absichtlich vom Festland getrennt hatte.

„Der Seelenhüter“ handelt von den Wunden, die die Einberufung elsässischer Männer in die Wehrmacht hinterließ. Konkret geht es um einen Mann, dessen Vater nicht aus Russland zurückkam. Derzeit schreibt Kretz an einem Krimi, der auf der Hohkönigsburg im Elsass spielt. „Einen Krimi zu schreiben, ist viel schwerer als einen Roman“, sagt er.

Da Kretz sehr begeistert von den Werken Johann Peter Hebels ist, empfindet er den Johann-Peter-Hebel-Preis als eine große Ehre. „Vor allem, da ihn noch nicht so viele Elsässer bekommen haben“, sagt er. Zu den Preisträgern aus dem Elsass gehört etwa der Theologe und Philosoph Albert Schweitzer. Preisträger aus anderen Regionen sind beispielsweise Sibylle Berg oder Christoph Meckel. (0964/07.05.2024)