„Ein am Boden liegender König“

Um die Weihnachtsgeschichte ranken sich Legenden, Mythen und Heile-Welt-Erzählungen. Der wahre Kern der Botschaft bleibt oftmals verborgen oder gar unverständlich, sagt der Regensburger Theologe und Therapeut Martin Schulte im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Deshalb versucht er die Geburt Jesu vor 2000 Jahren modern zu interpretieren – und greift dabei manchmal auch zu Schachfiguren.

epd: Herr Schulte, ist diese Geburt im Stall nun eine Legende oder ist sie wahr?

Martin Schulte: Legende daran ist, dass Jesus in Bethlehem geboren und dass es eine Jungfrauengeburt gewesen sein soll. Letzteres war ein Übersetzungsfehler aus dem Alten Testament. Diese Weihnachtserzählung wurde erst etwa 70 Jahre später, also nach dem Tod Jesu aufgeschrieben. Wahr daran ist, dass Menschen nach seinem Tod daran geglaubt haben, dass in diesem kleinen Kind, diesem Zimmermannsbuben aus Nazareth, Gott sichtbar wird. Wahrheit ist, dass Menschen dies seit 2000 Jahren bezeugen und dass daraus eine Kraft entstanden ist, die die Welt verändert hat.

epd: Aber ist es nicht auch eine zutiefst verstörende Geschichte?

Schulte: Die Geburtsgeschichte ist eine ganz schwierige Geschichte: Eine Volkszählung zu erleben, bei der man durch das halbe römische Reich gescheucht wird, nur weil man sich am Geburtsort für Steuerlisten einschreiben muss, kein Quartier zu bekommen, dann irgendwo im Stall als hochschwangere Frau unterzukommen zwischen Viechern, wo es stinkt und kalt ist, und dort entbinden zu müssen. Wenn ich so etwas lese und höre, denke ich nicht an eine Klinik in Deutschland, sondern an eine Geburt in Afghanistan oder im Kriegsgebiet in Gaza, wo Menschen genauso um ihr Leben und das ihrer Kinder kämpfen.

epd: Warum steckt nach Ihrer Ansicht in dieser Geschichte eine Kraft, die die Welt verändert hat?

Schulte: Weil sie auch für uns heutige Menschen eine große Bedeutung hat, nämlich gerade dann, wenn wir uns ohnmächtig und machtlos fühlen, wenn alles zusammenbricht und scheitert. Gerade da will Gott anwesend und wirksam sein. Dass in einem kleinen, hilflosen, unselbständigen Säugling Gott erscheint, das ist der entschiedene Protest der damaligen Zeit gegen alle Mächtigen dieser Welt.

epd: Um das sichtbar zu machen, verwenden Sie in Ihren Kursen auch Schachfiguren. Wie kann man sich das vorstellen?

Schulte: Die schwarze Königsfigur stellt Herodes dar und steht in der Mitte. Er regiert ein mächtiges Reich, in dem Bauern seine Befehle ausführen. Am Rande der Gesellschaft leben die Figuren in Armut, unter anderem ein Paar, das sich liebt und ein Kind erwartet. Dieses wird geboren und als ein am Boden liegender König dargestellt. Die Weisen des Landes, Türme und Läufer, gehen nicht zum mächtigen König Herodes, sondern huldigen dem König am Boden. Die Hirten, das sind heute vielleicht Arbeiter in Fabriken und Häfen, suchen aber den machtlosen König auf.

epd: Die Weihnachtsgeschichte als Gegenprogramm zur realen Welt – und was hat das noch mit dem Fest zu tun, bei dem es Geschenke, Baum und gutes Essen gibt?

Schulte: Die Botschaft von Weihnachten ist überdeckt durch Rituale, Gewohnheiten, Traditionen, auch durch unheimlich viel Lärm. Ich glaube, dass wir im persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Leben sehr von außen gesteuert und beeinflusst sind, was meinen wir alles tun zu müssen und zu sollen, damit wir in Ordnung und okay sind! Zu kurz kommt dabei die Zeit, dass wir auf uns selber hören, auf unsere innere Stimme, auf das, was eigentlich den Sinn unseres Daseins ausmacht. Diese feinen Stimmen, die in diesem ohnmächtigen Kind hörbar werden, kann man nur in der Stille wahrnehmen.

epd: Warum wird dennoch das Wissen über die eigentliche Botschaft weniger?

Schulte: Weil Menschen es nicht erlebt haben, einen biblischen Text so auszulegen, dass er im eigenen Leben eine Bedeutung hat. Wenn ich aber eine Gottesvorstellung habe, die von Ohnmacht, Solidarität, von Mitleid und Empathie geprägt ist, dann kann ich diesen Gott sehr wohl in mein Leben hineinlassen, weil er mir dann hilft, wenn ich am Boden bin. Dann hilft er auch, wenn ich verzweifelt bin und nicht weiß, wie es in Gaza oder der Ukraine weitergeht. Da erleben wir uns dann so machtlos wie Maria und Josef im Stall. Und genau dort ist Gott in tiefer Solidarität. (00/4157/21.12.2023)