Wozu Bergsteigen? Passionierten Alpinisten fallen auf diese Frage eine Menge Antworten ein. Günter Seubold hat daraus ein ganzes Buch gemacht – das auch Flachlandtirolern Sehnsucht auf Gipfelerlebnisse macht.
Bergsteigen ist konzentriertes Leben, schreibt der Alpinist und Philosoph Günter Seubold (69) in seinem neuen Buch. Ein Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über Gipfel, Gefahren, Goethe und Glückseligkeit. Was sich im Gebirge lernen lässt, aber nicht am Strand.
Frage: Herr Seubold, “Die Gebirge sind stumme Meister und machen schweigsame Schüler”, schrieb Goethe. Was lehren sie denn im Unterschied zu den Niederungen?
Antwort: Ich bin gern am Strand und schaue aufs weite Meer hinaus. Da kann sich auch die Vorstellung des Erhabenen aufbauen. Aber Bergsteigen ist mehr: Es ist ein hochkomplexes Handeln und Denken. Eine Bergtour muss geplant und auch gegen auftretende Probleme durchgeführt werden. Da muss ich meine Beziehung zur Natur, meine Konzentration über längere Zeit intensivieren, da habe ich ein innigeres Verhältnis zur Welt als im Tal. Ich muss mich selbst richtig einschätzen, übernehme für mich und andere Verantwortung und erfahre die Natur in allen Facetten. Bergsteigen ist für mich etwas Ganzheitliches – eine Lebensform.
Frage: Ein gelehriger, aber überhaupt nicht schweigsamer Schüler der Berge ist Reinhold Messner. Der sagte einmal: “Die tiefsten Gründe auf die Berge zu steigen liegen darin, dass ich die stärksten Erfahrungen nur haben kann, wenn ich bis an den Rand der Möglichkeiten gehe.” Muss man sich für ein Stück mehr Lebenskunst unbedingt Todesgefahren aussetzen?
Antwort: Eine heikle Frage. Für mich gehört die Gefahr wesentlich zum Bergsteigen dazu. In der bequem eingerichteten Bürgerlichkeit gewöhnt man sich zu schnell an das Leben. Es wird zur Routine, man schätzt es nicht mehr. Das Bestehen und Überwinden gefährlicher Situationen in den Bergen lehrt einen, das Leben wieder ganz neu zu lieben. Wobei ich Gefahren überhaupt nicht schönreden möchte. Eine Studentin von mir ist tödlich abgestürzt. Bei manchen Touren wie dem Bianco-Grat auf den Piz Bernina, den höchsten Berg der Ostalpen, habe ich sechs Jahre Anlauf genommen.
Frage: Wenn ich meiner frommen Oma von Kletterabenteuern berichtete, meinte die bloß kopfschüttelnd: “Man soll den Herrgott nicht versuchen.”
Antwort: Ich würde sagen, dass man den Herrgott dann noch besser versteht, wenn man, etwas pathetisch gesprochen, dem Tod ins Auge schaut. Dieses physische Leben ist begrenzt, ich bin endlich. Das zu spüren ist eine Erfahrung der Transzendenz. Ich würde so weit gehen zu sagen: Bergsteigen kann ein Gebet sein.
Frage: Der frühere Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher prägte das Bonmot: “Viele Wege führen zu Gott, einer geht über die Berge.” Sie haben auch Theologie studiert …
Antwort: Volle Zustimmung. Berge haben etwas Mystisches und die Kulturgeschichte geprägt, die religiöse wie die säkulare. “Über allen Gipfeln ist Ruh” gilt als das innigste Gedicht des Abendlands. Goethe hat es auf einer einsamen Berghütte im Thüringer Wald geschrieben, auf eine Bretterwand. Er hatte ursprünglich gar nicht daran gedacht, dort oben zu dichten, und deshalb kein Papier dabei. Und dann hat es ihn dort oben überwältigt.
Frage: Sie bieten selbst Wanderungen an, bei denen Ihre Begleiter Fragen und Probleme vorbringen können, um sie gemeinsam im Gespräch zu lösen. Wie muss man sich das vorstellen?
Antwort: Ich bin weder Psychoanalytiker noch Therapeut. Aber bei einer Bergtour oder gar einer Alpenüberquerung gewinnen Sie Abstand von Problemen, und der hilft auch dabei, sie zu lösen.
Frage: Gibt es eine Tour, bei der Sie persönlich besonders viel gelernt haben?
Antwort: Ja, bei einer Eingehtour auf den Piz Julier im Engadin. Ich war nicht darauf eingestellt, dass da Anfang Juli noch so viel Schnee lag. Pickel und Steigeisen hatte ich nicht mit. So habe ich mich entschlossen, den Gipfel auf direktem Weg über eine Felsflanke anzusteuern. Das hat wunderbar geklappt, aber beim Abklettern bin ich etwa zehn Meter im scharfen Kalk abgerutscht, habe mir tiefe Wunden geholt und den linken Fuß ausgekugelt. Instinktiv habe ich ihn an den Felsen geschlagen und so ist er wieder ins Gelenk gesprungen. Erst spät in der Nacht war ich wieder im Tal.
Frage: Worin bestand Ihre Lektion?
Antwort: Dass der Mensch Reserven in sich hat, von denen er gar nichts weiß. Die er aufrufen kann und muss, wenn es darauf ankommt. Durch die negative Erfahrung des Absturzes habe ich diese positiven Kräfte in mir kennengelernt. Das war die tiefste Erfahrung, die ich jemals beim Bergsteigen gemacht habe.
Frage: Das ist aber jetzt kein Plädoyer dafür, auf die Bergwacht zu verzichten?
Antwort: Nein, nein. Es war auch Glück dabei, dass ich überhaupt wieder einen Stand gefunden habe. Ich habe es dann zwar ohne fremde Hilfe wieder nach unten geschafft. Im Tal hat mir der Hotelier eine antibiotische Salbe gegeben, die auch das Schweizer Militär verwendet. Die habe ich täglich aufgetragen. Nach acht Tagen konnte ich wieder einen Dreitausender besteigen. Gute Salbe, guter Mann.
Frage: In einem Volkslied heißt es “Auf den Bergen wohnt die Freiheit, in den Tälern wohnt der Neid”. Stimmt das?
Antwort: Freiheit und Glückseligkeit sind zwei wesentliche Befindlichkeiten, wenn man in die Berge geht. Ein Tag am Berg ist ein Frei-Tag und ein Fest-Tag. Sie haben eine Brotzeit dabei, und oben fühlen Sie sich wie auf dem Olymp.
Frage: “Wirklich oben bist Du nie”, so fasste Reinhard Karl, der erste Deutsche auf dem Dach der Welt, seine Erfahrung in Worte. Wozu dann die ganzen Strapazen?
Antwort: Im Prinzip stimmt das. Aber meine Erlebnisse am Berg nehme ich ja mit ins Tal. Auch das Selbstbewusstsein, ein unerwartetes Problem dort oben gemeistert zu haben. Das hilft dann auch im Alltag weiter. Heute sprechen viele von Resilienz. Am Berg lernt man die.
Frage: Sie sind Jahrgang 1955. Wie kommen Sie damit zurecht, dass die Berge mit dem Alter immer steiler werden?
Antwort: Ich spüre noch keinen konditionellen Verfall. Meine schwierigsten Touren habe ich erst in den letzten paar Jahren gemacht. Würde ich Lungenvolumen oder Muskelkraft messen lassen, ließe sich bestimmt ein unvorteilhafter Unterschied zu früher feststellen. Dafür bin ich heute mental stärker und mache auch keine Anfängerfehler mehr, wie etwa, zu schnell loszulaufen.