„Du fehlst“

Was der Musiker und Pop-Poet Herbert Grönemeyer über Tod, Liebe und ewiges Leben zu sagen hat

Vor ziemlich genau zwanzig Jahren, im August 2002, ist Herbert Grönemeyers Erfolgsalbum „Mensch“ erschienen. Die darauf versammelten Lieder zeigen sich bestimmt durch persönliche Verluste und den Versuch, sie zu verarbeiten. Von Grönemeyers Poesie kann auch die Theologie lernen.

Ob er „spiritueller geworden“ sei, wurde der Musiker Herbert Grönemeyer gefragt, kurz nachdem seine Frau und sein Bruder innerhalb weniger Tage von ihm gegangen waren. „Ja“, er wisse „aber nicht genau, was das heißt“. „Du entdeckst plötzlich“, erwiderte der Interviewer Roger Willemsen, „dass es sich lohnen kann, mit Pfarrern zu reden“. Diese Gespräche seien tatsächlich beeindruckend für ihn gewesen, entgegnete Grönemeyer. Es sei ihm klar geworden, „dass die Verschiedenheit der Menschen sich darin zeigt, wie jemand sein Leben in Beziehung zum Tod sieht“.
Vor 20 Jahren ist Grönemeyers Erfolgsalbum „Mensch“ erschienen. Die darauf enthaltenen Lieder spiegeln die erwähnte Verlusterfahrung und den Versuch, sie zu verarbeiten. Insbesondere den Tod seiner Frau Anna im November 1998 scheint er an vielen Stellen direkt zu thematisieren.

Was macht der Tod mit dem Leben?

„Mensch“ dreht sich also darum, wie jemand, ausgelöst durch den Verlust einer geliebten Person, „sein Leben in Beziehung zum Tod sieht“ und es von daher neu anzugehen versucht. Grönemeyer hat seine persönliche Geschichte von Verlust und Neuanfang aber derart poetisiert, dass die dabei entstandenen Songs auf ganz verschiedene Erfahrungskonstellationen passen, ohne deshalb weniger authentisch zu klingen.

Viele Menschen konnten und können diese Erlebnisse offensichtlich auf sich beziehen. Dafür spricht der enorme Erfolg des Albums, von dem sich auch etwas über die religiösen Bedürfnisse der Gegenwart lernen lässt. Die folgenden Beispiele mögen das deutlich machen.

„Der Mensch heißt Mensch“, so ist im Titelsong des Albums zu hören, „weil er erinnert, weil er kämpft / Und weil er hofft und liebt / Weil er mitfühlt und vergibt / Und weil er lacht / Und weil er lebt / Du fehlst“. Die abschließende Verlustanzeige durchkreuzt offensichtlich die Reihe jener allgemein gehaltenen Zuschreibungen. Sie ist nicht verallgemeinerbar, sondern kann nur durch ein individuelles Ich ausgesagt werden. Mag es auch so sein, dass der Verlust geliebter Personen zum Menschsein gehört. Wer aber einen solchen Verlust erleidet, dem hilft dieses allgemeine Faktum nicht weiter – leidet er doch darunter, dass eine für ihn unersetzbare Person nicht mehr da ist.

Grönemeyers „Du fehlst“ wahrt die Individualität des Leidens, indem es die Einmaligkeit dessen festhält, der da fehlt. Der Verlust wird nicht in einen höheren Sinnzusammenhang aufgehoben, sondern als so einzigartig, wie er ist, zum Ausdruck gebracht. Davon kann eine Theologie lernen, die gern alles Negative in Gottes Güte überwunden sehen will.

„Das Nichts steckt in jedem Detail“, singt Grönemeyer solchen Deutungsversuchen fern im Song „Unbewohnt“. Man findet darin sprechende Bilder und Klänge für die verdunkelte Selbst- und Weltsicht eines Leidenden. Ebenso „leer“ und „kalt“ erscheint diesem das Haus, in dem er herum-„streunt“, wie in ihm „alle Zimmer frei“ sind. „Keine Seele in vier Wänden“, die die innere und äußere Welt mit Leben füllen könnte. Er bewegt sich „im aussichtslosen Raum“, was einerseits auf die reale Dunkelheit, andererseits auf die Verdunkelung aller Zukunftsperspektiven hinweist. „Hundert Jahre Einsamkeit“ erwarten ihn. Alle Versuche, die eigene Situation wenigstens „verstehen“ zu können, schlagen fehl, denn „der Grundriss ist weg“. Die tragenden Sinnzusammenhänge sind jäh zerbrochen.

Worte finden hilft beim Verarbeiten

Grönemeyers drastische Metaphorik wahrt und würdigt auf ihre Weise die Individualität des Leidens. Der Tod eines anderen Menschen kann das ganze Leben der Hinterbliebenen eintrüben, was in diesem Song ohne Schönfärberei ausgesprochen, aber zugleich durch ihn artikulierbar wird.

Das lässt an die biblischen Klagepsalmen denken. Sie waren immer schon heilsame Ausdrucksmittel für Erfahrungen von Trauer und Not. In Grönemeyers Text mag ein Gottesbezug und vor allem der für alttestamentliche Klagepsalmen charakteristische Stimmungsumschwung fehlen, in dem sich das Leiden wendet. Aber schon in der Bibel wird damit kein Automatismus beschworen, sondern das potenzielle Ende eines Prozesses vorgezeichnet. Mithin ist „Unbewohnt“ Teil eines Gesamtwerks. In dessen letztem Lied wird es dann freudig heißen: „Du holst mich aus dem grauen Tal der Tränen / lässt alle Wunder auf einmal geschehen / dass mir Hören und Sehen vergeht“. Dieses „Du“ steht für eine mögliche neue Liebe. Auf deren künftiges Kommen wird hier schon mit überschwänglicher Vorfreude, aber ohne letzte Gewissheit vorausgeblickt. Das „Tal der Tränen“, dessen Realität man in „Unbewohnt“ ausgemalt findet, ist übrigens, genau wie das ebenfalls bei Grönemeyer begegnende „Jammertal“, ein genuin psalmensprachlicher Ausdruck. Es scheint hier der Liebe in ihrer erlösenden Kraft etwas Göttliches zuzukommen.

„Erlösung“, so textet Grönemeyer an anderer Stelle, „liegt in Erinnerung“. Der Ort, an dem die im Tageslicht verbleichenden Erinnerungsbilder zum Leben erwachen, ist für den Bochumer Romantiker das Dunkel der Nacht. „Die Nacht schluckt jedes schwere Gewicht / erlässt den Tag aus der Pflicht / der Mond steht steil und tut wieder nichts / schließ‘ die Augen und denk‘ an dich“, singt er in „Dort und hier“, dem kürzesten und leisesten Lied des Albums. Hier bringt Grönemeyer im Refrain eine tastende Jenseitshoffnung zum Tragen, die aus dem unaufhörlichen Interesse der Liebe am guten Ergehen der Geliebten erwächst: „Ist jemand da, wenn dein Flügel bricht /
der ihn für dich schient / der dich beschützt?“ Andeutungsweise wird hier die Vorstellung eines Lebens nach dem Tode als Engel im Himmel aufgerufen. Offen bleibt, ob jemand da ist, der nun Fürsorge, Schutz und liebevolle Zuwendung spendet. Darauf aber richtet sich die nächtliche Sehnsucht danach, der Verlorenen weiter nahe sein zu können.

Sehnsucht über das Leben hinaus

Dieser über die Grenzen des Lebens hinausreichenden Sehnsucht gibt Grönemeyer auch in der Ballade „Der Weg“ eine Stimme. Dort besingt er die vergangene Erfahrung liebevollen Zusammenseins: „Den Film getanzt / in einem silbernen Raum / vom goldenen Balkon / die Unendlichkeit bestaunt / heillos versunken / trunken / und alles war erlaubt“. Die Liebe hat demnach etwas Illusionäres an sich. Wer sich in sie „versenkt“, leistet sich mehr, als dem gesunden Menschenverstand zufolge „erlaubt“ ist. Der verfällt dem Eindruck, etwas von der „Unendlichkeit“ schmecken zu können, obwohl doch eigentlich alles ein Ende haben muss.

Grönemeyers Text aber hält daran fest, dass die Liebe einen Ewigkeitsbezug aufweist: „Es war ein Stück vom Himmel / dass es dich gibt“. Die entzaubernde Realität des Lebens, das in seinem erbarmungslosen Endenmüssen „nicht fair“ ist, wie es der Refrain unterstreicht, kann diesen Zauber der Unendlichkeit nicht gänzlich zerstören. „Habe dich sicher / in meiner Seele“, endet das Lied: „Ich trag‘ dich bei mir / bis der Vorhang fällt“.

Eingeschrieben in die Seele

Die Seele steht für die unbedingte Dimension menschlichen Selbstseins, für seine unverlierbare Teilhabe am Göttlichen. Im Inneren der Seele bleibt etwas von der Entschwundenen, die sich für immer ins Ich des Zurückgelassenen eingeschrieben hat. Er trägt sie als einen unvergänglichen Teil seiner selbst weiter bei sich.

Wenn dann „der Vorhang fällt“, wird auch dieser Weg zu Ende sein. Ob er auf der Hinterbühne des Lebens weitergeht, lässt Grönemeyer offen. Sein Text aber enthält die heilsame Perspektive, dass es im diesseitigen Leben etwas Unvergängliches, Unendliches, ja Göttliches gibt, an dem wir insbesondere in der Liebe teilhaben können. „Und der Mensch heißt Mensch“: „weil er schwärmt und glaubt / sich anlehnt und vertraut / weil er lacht / und weil er lebt / Du fehlst“.

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der Text ist zunächst in längerer Form im Magazin Zeitzeichen, Ausgabe 08/22, erschienen, zu finden unter www.zeitzeichen.net/node/9887