Drama um eine Vergewaltigung im Ersten

Martina, Ärztin und glücklich verheiratete Mutter einer Teenagertochter, wird vergewaltigt. Danach ist nichts mehr, wie es war. Fesselndes Drama über eine Frau, die sich die Deutungshoheit über ihr Leben zurückholt.

Martina rafft ihr Sommerkleid nach oben, nimmt Anlauf, springt über das Lagerfeuer am Strand. Die Mittfünfzigerin liebt das Spiel mit dem Feuer, im direkten wie übertragenen Sinne: Als Neurochirurgin führt sie diffizilste Hirnoperationen durch, bei denen Kollegen längst die Nerven verlieren. Im Privatleben mag es die glücklich verheiratete Frau und Mutter einer Teenagertochter zu flirten, sich gelegentlich mit Alkohol oder Cannabis dem Rausch hinzugeben. Auch mit Mischa, dem Sohn ihrer besten Freundin, flirtete sie an jenem Abend auf der Strandparty – bevor der sie vergewaltigte.

Ein kluger Zug des Dramas “Bis zur Wahrheit”, das das Erste am 20. November von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt, ist es, Martina (Maria Furtwängler) nicht als “typisches” Opfer zu zeichnen – sondern als selbstbewusste, sexuell aktive, auch mal riskant agierende Frau. Die Kernbotschaft der Story tritt auf diese Weise umso deutlicher zutage: Das, was Mischa (überzeugend: Damian Hardung) getan hat, war ungeachtet ihres Verhaltens falsch, war eine Vergewaltigung.

Ob sie sich gewehrt habe, wird Martina im Verlauf des Films immer wieder gefragt, oft mit vorwurfsvollem Unterton – als mache es sie mitschuldig, sich dem jungen Mann nicht auch körperlich widersetzt zu haben. Doch Martina konnte sich nicht mehr bewegen, eine Schockstarre, wie sie bei den meisten Vergewaltigungsopfern eintritt. Ohnehin: Sie hatte klar kommuniziert, keinen Sex haben zu wollen. Eine Aussage, die ausreichen sollte – und so häufig ignoriert wird.

“Bis zur Wahrheit” versucht, den verbreiteten Vergewaltigungsmythen etwas entgegenzusetzen. Trotzdem kommt der von Lena Fakler geschriebene und von Saralisa Volm inszenierte Film kein bisschen didaktisch oder hölzern daher. Das Drama erzählt eine von der ersten bis zur letzten Minute fesselnde, vor (An)Spannung vibrierende, mit guten Figuren und herausragenden darstellerischen Leistungen gespickte Geschichte.

Deren starkes Zentrum bildet Maria Furtwängler: Die Schauspielerin, die den Film auch koproduzierte und sich mit ihrer MaLisa-Stiftung seit Jahren für ein gleichberechtigteres TV-Programm einsetzt, liefert einen beeindruckenden Auftritt ab. Sie spielt eine Protagonistin, die vieles zugleich sein darf. Sie trägt Attribute, die bei einer männlichen Figur “normal”, für eine Protagonistin aber noch immer ungewöhnlich sind: Beruflich erfolgreich, mit einer sich in Sport und Sex äußernden, selbstverständlichen Körperlichkeit, und eben einer gewissen Lust am Spiel mit dem Feuer. Die aber auch weiblich konnotierte Züge trägt in ihren Versuchen, es allen recht machen zu wollen, auch nach der Tat noch weiter zu “funktionieren”.

Bis es schließlich nicht mehr geht und die mühsam aufrechterhaltene Fassade durch das erlebte Trauma, aber auch den retraumatisierenden Unglauben ihres Umfelds zum Einsturz gebracht wird: Irgendwann schert sich Martina nicht mehr um die Regeln der (patriarchalen) Gesellschaft, holt sich die Deutungshoheit über ihre Geschichte auf eigene Faust zurück. Atemlos folgt man Furtwängler bei dieser Performance, bis zuletzt.

Stimmig sind auch die anderen Figuren und Beziehungen, etwa das Miteinander zwischen Martina und ihrem Mann Andi (gut: Pasquale Aleardi). Hier wie auch sonst verzichtet der Film auf Klischees. So ist Andi zwar impulsiv und eifersüchtig, aber auch äußerst loyal, als Martina ihn schließlich einweiht in das, was ihr widerfahren ist. Auch der Vergewaltiger ist kein “typischer” Täter, kein klischeehafter Macho, sondern ein Klimaaktivist. Erzählt wird ohne Voyeurismus und mit großer Sensibilität, gerade auch bei der Vergewaltigungs-Szene – dazu tragen auch die Kamera von Roland Stuprich und die präzise Musik- und Tonspur bei.

Am Ende wird es Martina gelingen, wieder ins Wasser zu steigen – Schwimmen als Symbol ihrer Freiheit, ihres Lebens. Denn die Scham hat – frei nach Gisele Pelicot, deren unzählige Vergewaltiger gerade in Frankreich vor Gericht stehen -, die Seiten gewechselt.