“Corsage”: Arte zeigt Drama über Sisi
Der Hof und sein Zeremoniell sind ihr zuwider. Nach ihrem 40. Geburtstag sucht die österreichische Kaiserin Sisi Emanzipation von ihrem inszenierten Selbstbild. Eine Kritik zum Arte-Film “Corsage”.
Eine coole Girl-Gang auf der Flucht läuft in weiten Röcken und in Zeitlupe die Treppen hoch, direkt auf die Kamera zu. Gerade hat Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn eine Ohnmacht vorgetäuscht, um einem lästigen repräsentativen Auftritt zu entgehen. Jetzt “flieht” sie zusammen mit ihren engsten Verbündeten, den Gesellschafterinnen Marie und Ida und ihrer persönlichen Friseurin Fanny. Dazu ist zarter Frauengesang zu hören und eine reduzierte Instrumentalspur; “Go away” singt die leicht brüchig klingende Stimme.
Das ist ein eindringlicher Auftakt für eine Geschichte, die vom Versuch einer weiblichen Befreiung erzählt. Dass die nur in Teilen gelang und die freiheitsliebende “Sisi” Zeit ihres Lebens unter den Fesseln des Hofprotokolls litt, ist historisch verbürgt. Der von Marie Kreutzer geschriebene und inszenierte Film “Corsage” schenkt der Hauptfigur jedoch den großen Sprung in diese ersehnte Freiheit. Arte zeigt ihn am Freitag, 22. November, um 20.15 Uhr.
“Corsage”: Sisi befreit sich von Etikette am Hof
In ihren späteren Jahren befreite sich die reale Sisi zunehmend von den ihr lästigen Pflichten der höfischen Etikette und war oft auf Reisen und fern der verhassten Wiener Hofburg. “Corsage” erzählt von dieser Fluchtbewegung, die auch eine Flucht vor dem eigenen, übermächtigen Bild der wunderschönen, ewig jungen Kaiserin mit der Wespentaille in eine fiktionale Überspitzung ist. Der Film spinnt Überliefertes wie etwa den Umstand, dass sich Sisi gelegentlich wohl von einer ihrer Vertrauten vertreten ließ, weiter und lässt die im Korsett ihrer Zeit und ihrer Stellung eingesperrte Kaiserin sich zunehmend Freiheiten nehmen, während sie mit ihrer Hofdame Marie eine perfekte Doppelgängerin aufbaut.
Erstaunlicherweise problematisiert der Film die Tatsache nicht, dass für die Emanzipation der einen eine andere Frau “den Kopf hinhalten” muss. Das ist ein blinder Fleck, der an die Debatte mahnt, dass auch die weibliche Emanzipation im 21. Jahrhundert allzu oft mit der Ausbeutung weniger privilegierter Frauen erkauft wird, die das Putzen und Kinderhüten übernehmen. Abgesehen von dieser Leerstelle bietet “Corsage” eine ebenso kluge wie moderne und ausdrucksstarke Interpretation von Leben und Gemüt der berühmten Kaiserin.
Die Handlung setzt im Dezember 1877 ein, kurz vor Sisis 40. Geburtstag, der für die von ihrer Jugend und Schönheit besessene Frau eine Zäsur darstellt. In ganz Europa ist die Monarchin für ihre Anmut bekannt; zahlreiche Gemälde und Darstellungen künden davon. Sisi tut viel dafür, dass dies so bleibt; sie turnt, unterwirft sich strengen Diäten, verbringt täglich viele Stunden damit, sich herauszuputzen. Zugleich ist sie zu klug, wissbegierig und freigeistig, um sich mit dieser rein äußerlichen Rolle zufriedenzugeben. Zudem spürt sie den Zahn der Zeit an sich nagen und kann dem Druck der öffentlichen Erwartung immer weniger standhalten.
Sisi – mal einsam, mal impulsiv
Die Inszenierung konzentriert sich auf den Zeitraum eines knappen Jahres; der Film endet im Oktober 1878. In zahlreichen Begegnungen, auf Reisen und in der Auseinandersetzung mit dem Gatten Franz Joseph zeichnet “Corsage” das Bild einer Frau, die eine neue Verortung im Leben sucht. Sisi ist eine mal rastlose, mal impulsive, mal launische, mal einsame Person aber auch neugierig, unkonventionell, liberale und ihrer jüngsten Tochter Valeria gegenüber sogar liebevoll. Sie machte sich nichts aus gesellschaftlichen Ritualen und tat doch lange Zeit alles dafür, die Erwartungen der Gesellschaft an sie zu erfüllen.
Überflüssig zu erwähnen, dass sich dabei ein völlig anderes Bild ergibt als das, das Ernst Marischka in den 1950er-Jahren mit seinen “Sissi”-Filmen mit der jungen Romy Schneider in der Hauptrolle entwarf, die lange Zeit die öffentliche Wahrnehmung der Kaiserin prägten. Vicky Krieps ist eine phänomenale Besetzung für diese vielschichtige Figur; sie hält Sisis widersprüchliche Eigenschaften in einer stimmigen darstellerischen Leistung zusammen. Auch Florian Teichtmeister als ihr zunehmend fremder werdender Ehemann gelingt als Franz Joseph ein nuancierter Spagat zwischen Staatsräson und persönlicher Verletztheit, gönnerhaftem Chauvinismus und Überforderung angesichts seiner fordernden Frau.
Regisseurin Marie Kreutzer zeigt feinen Humor
Marie Kreutzer erzählt stilsicher von einer Gesellschaft, die uns fern ist – und gleichzeitig sehr nah. Der österreichischen Regisseurin gelingt ein moderner, das Aktuelle seiner Erzählung herausarbeitender Zugriff, der sich in Kombination mit dem historischen Setting zu einem wunderbaren Kostümfilm fügt. Schön ist zudem der feine Humor.
Unbedingt zu erwähnen ist auch die prägnant eingesetzte Musik von Camille, die von Sisis Seelenzuständen kündet, aber auch die ausdrucksstarke Kamera von Judith Kaufmann. “Corsage” ist ein atmosphärisch moderner Kostümfilm – mit einer im emanzipatorischen Sinne freilich desaströsen Botschaft. Denn Sisis Befreiungsschlag besteht darin, sich zwar erfolgreich dem übermächtigen (Selbst-)Bild sowie den Blicken der Gesellschaft zu entziehen, allerdings um den Preis des eigenen Verschwindens in der Unsichtbarkeit.
Arte zeigt “Corsage” am Freitag, 22. November, um 20.15 Uhr.