Drama „Die Unschuld“ über die Freundschaft zweier Jungen

Ein Drama aus drei Perspektiven – Der japanischen Spielfilm „Die Unschuld“ behandelt Freundschaft und Familie abseits von Blutsverwandtschaft. Dabei laufen sicher geglaubte Annahmen am Ende ins Leere.

Wenn ein zehnjähriger Junge plötzlich aus dem fahrenden Auto seiner Mutter springt, kann das daran liegen, dass diese gerade einen für Pubertierende extrem nervigen Unsinn erzählt. Im Fall der alleinerziehenden Saori (Sakura Ando) und ihrem Sohn Minato (Soya Kurokawa) ist es ein Loblied auf die „stinknormale Familie“. Eine solche zu haben und nicht allein sein zu müssen, sei „der größte Schatz“, sagt die Mutter. Auf dass der Sohn irgendwann selbst eine Familie gründen werde. Da steigt Minato buchstäblich aus. Was ihn in die Notaufnahme bringt.

Mit dieser scheinbar melodramatischen Sequenz reißt der im Original „Monster“ betitelter Spielfilm „Die Unschuld“ von Hirokazu Kore-eda grob an, welches Rührstück um eine vaterlose Kindheit er als Potenzial in sich trägt, und dass Kore-edas Publikum dann wahrscheinlich ähnlich schnell aussteigen würde wie Minato aus dem Auto. Dass hinter dem halsbrecherischen Verhalten des Jungen ein ganz anderer Grund steckt, enthüllt sich erst spät. Dreimal setzt der Film neu an, jedes Mal aus einer anderen Perspektive, und immer wieder erweisen sich die scheinbar zwingenden Schlussfolgerungen sowohl für die Figuren als auch für die Zuschauer als vorschnell und falsch.

Zunächst konzentriert sich der Film auf die verwitwete Saori. Ein Hochhaus brennt, Mutter und Sohn betrachten das Feuer vom Balkon aus. Die Frage, wer es gelegt haben könnte, scheint bedeutungsvoll. Könnte es mit dem zunehmend seltsamen Verhalten von Minato zusammenhängen? Der behauptet, ein Monster zu sein, dem man das Hirn eines Schweins eingepflanzt habe. In einem Anfall schneidet er sich seine Haare ab, kommt mit nur einem Schuh nach Hause oder friert minutenlang ein, als er sich nach einem Radiergummi bückt. Allmählich entsteht der Verdacht, dass sein Lehrer Hori (Eita Nagayama) ihn misshandelt. Oder ist Minato selbst ein Übeltäter, der seinen Mitschüler Yori (Hinata Hiiragi) quält, einen seltsam fröhlich wirkenden, bei einem gewalttätigen Alkoholiker-Vater aufwachsenden Außenseiter?

Aus der Perspektive des Lehrers erzählt der Film die Geschehnisse im zweiten Teil, um im dritten schließlich die Sicht Minatos einzunehmen. Es wird deutlich, woraus das Verhalten des Jungen resultiert. So schnitt er sich die Haare erst ab, nachdem sein Mitschüler Yori mit seinen Fingern darin herumspielte. Auch ist es nicht – wie vom Lehrer fälschlich angenommen – Minato, der Yori hänselt. Vielmehr will er ihn schützen, hat dabei aber gleichzeitig Probleme, seine Freundschaft offen zu zeigen.

Dass „Die Unschuld“ beim Filmfestival in Cannes neben dem Drehbuchpreis auch die „Queer Palm“ erhielt, scheint jedoch ein freundliches Missverständnis zu sein; Kore-eda ging es nach eigener Aussage weniger um aufkeimende sexuelle Identität als um die universellen Aspekte einer durch Gewalt und Rollenzuschreibungen unter Druck gesetzten Freundschaft zwischen zwei Jungen.

Generell wiegen Zugehörigkeiten, seien sie biologischer, sozialer oder kultureller Art, bei Kore-eda weniger als jene Verbundenheit, die aus Liebe und Zuneigung entsteht. Die Feier der „stinknormalen Familie“ gehört eigentlich zur DNA des US-amerikanischen Kinos. Kore-eda gibt dieses Konzept weder der Lächerlichkeit preis, noch stellt er ihm eine allzu naiv idealisierte Alternative gegenüber; er lässt es eher eine Art Wiedergeburt durchlaufen und nutzt dafür Zeichen, die Westliches und Östliches vermischen.

So tragen in „Die Unschuld“ fast alle Hauptfiguren demonstrativ Shirts mit Aufdrucken wie „Working Class“ oder „California“. Derart im US-Style gewandet, wird gleichwohl am heimischen Schrein des verstorbenen Vaters gedacht und sich gefragt, ob der schon wiedergeboren wurde. Einen verwaschenen Rest von gesellschaftlicher Utopie tragen diese T-Shirt-Aufdrucke noch in sich, als Erinnerung an das Recht auf ein Streben nach Glück, aber auch das Recht, die Mächtigen und die sozialen Verhältnisse zu kritisieren und dabei auf Höflichkeitsfloskeln zu pfeifen.

Eigentlich sei das mit dem Glück doch reiner Blödsinn, sagt die Rektorin der Schule einmal. Wenn Glück etwas sei, das nur wenigen zuteilwerden könne, sollte man es auch nicht Glück nennen. Es sollte vielmehr „allen zustehen“. Darin kommt Kore-edas humanistischer Humor zum Ausdruck. Im dritten, in Überschwänglichkeit und helle Freude mündenden Teil des Films versöhnt er schließlich die Idee der Wiedergeburt mit dem gerade in Übergangszeiten höchst problematischen Gebot „Sei einfach du selbst“: indem sich die beiden Jungen nach einer knapp überstandenen Katastrophe als diejenigen wiedererkennen, die sie schon vorher waren. Nicht alle müssen zu Monstern werden.