Dokumentarfilm über eine ungewöhnliche Schulgemeinschaft

Einfühlsamer Dokumentarfilm über eine Grundschulklasse im 10. Wiener Gemeindebezirk, in der die meisten Kinder Deutsch nicht als erste Sprache erlernt haben.

Dokumentarfilme über Schulen, die eine gesellschaftliche Modellsituation vor Augen führen, deren Normierungen und Auswahlmechanismen, sind oft eine erschütternde Erfahrung. Umso mehr, wenn es um junge Menschen geht, die mit ganz anderen Voraussetzungen als die meisten anderen Kinder in die Bildungseinrichtung kommen. Etwa, weil sie eine andere Herkunftsgeschichte haben, sei es durch Zuwanderung oder Flucht, oder weil sie die Sprache, die in einem Land gesprochen wird, erst noch lernen müssen.

Bei den Kindern, die in “Favoriten” von der zweiten bis zur vierten Klasse mit der Kamera begleitet werden und deren Eltern beim Bau und in der Pizzeria arbeiten, als Postauslieferer oder Altenpflegerin, ist das ausnahmslos der Fall. “Wie sagt man das …?”, lautet eine wiederkehrende Frage, wenn die Kinder mit großer Anstrengung nach den passenden Worten für etwas suchen, das sich in ihrem Kopf längst als Satz formuliert hat.

Favoriten heißt der 10. Wiener Gemeindebezirk, in dem etwa die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner einen Migrationshintergrund haben. Für Regisseurin Ruth Beckermann meint das Wort Favoriten aber weniger den konkreten Ort und das soziale Milieu, als vielmehr die 25 Schulkinder, die sie im Titelvorspann in alphabetischer Reihenfolge namentlich vorstellt und von denen einige als Protagonisten in den Vordergrund treten. Alper, Majeda und Hafsa oder Manessa, Beid, Fatima und Liemar sowie ihre Lehrerin Ilkay Idiskut, eine charismatische Pädagogin, die ihre Arbeit mit großer Empathie und Debattenfreudigkeit ausübt, formieren sich von den ersten Bildern an zu einem Organismus, in dem verschiedene Individuen, Hintergründe und Herkünfte, Anforderungen und Bedürfnisse zusammenkommen und ausgehandelt werden.

In dem Film befasst sich mit strukturellen und individuellen Perspektiven: Zum einen wirft “Favoriten” einen Blick auf ein von Mangel und Ungleichheit bestimmtes Bildungssystem, in dem bei aller Hingabe der Lehrerin, die von Deutsch, Mathe über den Schwimmunterricht bis hin zum Klassenausflug alles zu verantworten hat, am Ende nur die Leistung zählt. Zum anderen sieht man jungen Menschen dabei zu, wie sie Welt, Sprache und soziales Miteinander begreifen, wie sie an Aufgaben wachsen und scheitern, wie sie verzweifeln und neuen Mut fassen.

Dieser überaus lebendige Raum – den zu betrachten schön ist, anrührend, traurig und manchmal auch lustig – steht in “Favoriten” im Zentrum, auch wenn das Systemische immer mitwirkt. Je näher die Schülerinnen und Schüler dem Moment kommen, an dem sich ihre weitere Schulbildung entscheidet – arbeitet sich das in den Vordergrund.

Beckermann hat von Herbst 2020 bis Frühjahr 2023 in der größten Volksschule der Stadt Wien gedreht, meist im Klassenzimmer. Nur in seltenen Momenten verlässt der Film die Räume der Schule. Anders als “Herr Bachmann und seine Klasse” von Maria Speth beginnt “Favoriten” nicht mit dem morgendlichen Aufbruch zur Schule, sondern mittendrin: beim Zumba mit anschließendem Freestyle, einem von zahlreichen Auflockerungsritualen, in denen bestimmte Lerninhalte wie etwa der “Körperteile-Blues” spielerisch verpackt sind. Im Gegensatz zu “Herr Bachmann …” wirkt “Favoriten” realistischer, weniger idealisierend und auf die Ausnahmeerzählung fixiert. Eine Personalsitzung gewährt dabei auch Einblick in das Bildungssystem: Die Sprachförderung wurde gestrichen, die Sozialarbeiterin fällt aus, die Schulpsychologin ist schwanger, Ersatz ist nicht vorgesehen.

Aufmerksam, diskret und nahezu unsichtbar navigiert die Kamera von Johannes Hammel zwischen den Tischen, dokumentiert Referate über Wasserkreisläufe, Rechenspiele, Schulaufgaben und Elterngespräche, bei denen die Kinder immer wieder als Übersetzer gefragt sind. Sie fängt dabei auch komische Situationen ein, die dem Blick der Lehrerin entgehen. Etwa wenn ein Mädchen, vom Dauergerede seines Tischnachbarn genervt, dem Jungen mit den Erwachsenen abgeschauter Strenge droht und ihn dann verpetzt.

Das Blickverhältnis verschiebt und erweitert sich, als Beckermann den Kindern Handys zum Filmen gibt und die dabei entstandenen Videos mit in den Film einwebt. Die Kinder fangen an, sich gegenseitig zu befragen, und werden dabei selbst zu Dokumentaristen. Wie möchtest du einmal leben, was ist deine Kultur, was dürfen Mädchen, was dürfen Jungen?

Als Lehrerin Ilkay Idiskut schwanger wird und die Klasse drei Monate vor Schuljahrsende verlassen muss, fließen Tränen, auch bei ihr. Bestürzend ist ihr Weggang auch deshalb, weil sich bis zu ihrem letzten Arbeitstag noch keine Lehrerin gefunden hat, die sie ersetzen wird.