Dokumentarfilm Architecton: Wie wollen wir morgen leben?
Bildgewaltiges Doku-Essay über das Vermögen des Menschen, sich in Bauwerken zu verwirklichen.
Im Steinbruch von Baalbek im Nordosten des Libanon steht ein nicht mehr junger Mann mit Rauschebart einem gigantischen Monolithen gegenüber. Der Mann wirkt winzig. Schweigend geht er um einen Stein herum. Immer wieder fasst er mit der flachen Hand auf seine Oberfläche und versucht zu verstehen, was er da vor sich hat und wie es vor Jahrhunderten wohl an diesen Ort gelangt sein mochte. Der Mann bleibt stumm, aber sein Körper spricht. Von seiner Ehrfurcht und Erschütterung lässt sich auch der Film anstecken.
Dass es sich bei dem Wunder um den rund tausend Tonnen wiegenden “Hajjar al-Hibla”, den größten bearbeiteten Steinblock der Antike handelt, gibt der Film “Architecton” von Victor Kossakovsky auch im Abspann nicht preis. Zusammenhänge, stringente Thesen und die Offenlegung des Rechercheprozesses sind erkennbar nicht das Interesse des Filmemachers. Die Überwältigungskraft von Bildern dagegen schon.
Im Prolog des filmischen Essays über die Lebenszyklen von Gestein und die Zerstörungen des Menschen bewegt sich die drohnengesteuerte Kamera zu Bläserklängen minutenlang durch kriegszerstörte Plattenbauruinen in der Ukraine: zerbombte Gebäudekomplexe, in denen riesige Krater klaffen, verkohlte Bauskelette. Hier und da steht noch ein halbes Wohnzimmer, ein Stück Küche, das den aus dem Leben gerissenen Alltag bezeugt. Später folgen Aufnahmen der zerstörten Städte nach dem verheerenden Erdbeben 2023 nahe der türkisch-syrischen Grenze. Die durch Profitgier und Korruption verursachten Baumängel waren für das Ausmaß der Katastrophe mitverantwortlich.
Mit “Architecton” arbeitet Kossakovsky weiter an seiner ganz eigenen Version eines “Cinema of Attraction”. Auf die Schönheit und Langlebigkeit antiker Baukunst, der gerade noch in meditativen Bildern gehuldigt wurde, folgt die Gewalt an der Natur. Bei der Sprengung eines Bergs stürzen Geröll, Felsbrocken und lavaartige Schlammmassen unter lautem Getöse im Close-Up auf die Kamera zu. Man bestaunt Oberflächen, Texturen und Abstraktionseffekte, die in ihrer visuellen Brillanz an das Eventkino heranreichen. Einmal zeichnet sich in den in Zeitlupe umherfliegenden Gesteinspartikeln sogar das Scheinbild eines Weltalls ab. Und auf dem Förderband einer gigantischen Zementanlage kommt wiederverwerteter Bauschutt regelrecht ins Tanzen.
Neben dem Spiel mit wechselnden Perspektiven und Größenverhältnissen reizt der Film die Möglichkeiten der Bildgestaltung in die verschiedensten Richtungen aus. Etwa, wenn in Schwarz-weiß-Sequenzen die Natur sich im gleißend hellen Weiß von den grauen Gebäuden abhebt. Auch die Orchester-Partitur des französisch-russischen Filmkomponisten Evgueni Galperine ist auf Erhabenheit aus.
Kossakovskys Anklage gegen den Raubbau an der Natur – Beton sei nach Wasser der meistgebrauchte Stoff auf der Erde, heißt es am Ende des Films auf einer Texttafel – geht dabei im Getöse gelegentlich verloren.
Seinen Ruhepol findet “Architecton” an der Seite des italienischen Baumeisters Michele De Lucchi, der anfangs in den Tempelruinen von Baalbek umherstapfte. Im Garten seines Hauses am Gardasee lässt er von Arbeitern einen Kreis aus Kalksteinbrocken errichten, der erkennbar keinen praktischen Sinn hat. Der Meister steht daneben, hilft bei der Auswahl der Steine, nickt anerkennend und freut sich – “que bello!”.
Der “magische” Kreis ist ein landschaftsgärtnerisches Projekt von symbolischer Bedeutung. Er soll von Menschen unberührt, das heißt unbetreten, bleiben. Wenn am Ende die Mähroboter über den Rasen tuckern, ist das Gras innerhalb des Zirkels schon hüfthoch. Eine gravitätische Stimmung umgibt diesen Ort.
Dabei hält dieses Vorbild für eine Zukunft, in der der Mensch seinen Alleinanspruch auf die Natur aufgegeben hat, nicht mal der Wirklichkeit seines idealistischen Schöpfers stand. Denn Michele De Lucchi, dieser bedächtige Mann im langen Wollmantel, hat durch seine Bauprojekte selbst Anteil an der Produktion und Verwendung von Beton – ein Baustoff, der etwa für acht Prozent des jährlich produzierten CO2-Eintrags in die Atmosphäre verantwortlich ist.
In einem etwas angepappt wirkenden Interview erzählt der Architekt voller Scham, dass seine Firma gerade einen dieser hässlichen, nichtssagenden Wolkenkratzer in Mailand baue, deren Lebensdauer im Durchschnitt gerade mal 40 Jahre beträgt.